Memoiren eines Lichtträgers / Eye Witness / Menschen, Ghule und Geister: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Shadowiki
Wechseln zu: Navigation, Suche
(Quellen)
(Timecode 17.06.2054 / 22:30:00)
Zeile 504: Zeile 504:
 
"Ihr habt ja Recht, aber ich glaube dennoch nicht daran, daß man mit jemandem, der einen als Nahrung ansieht, dauerhaft friedlich zusammenleben kann…Prost!".
 
"Ihr habt ja Recht, aber ich glaube dennoch nicht daran, daß man mit jemandem, der einen als Nahrung ansieht, dauerhaft friedlich zusammenleben kann…Prost!".
  
 +
==Fortsetzung==
 +
Die Fortsetzung der Story um die Runner findet sich unter [[Memoiren eines Lichtträgers / Eye Witness / Menschen, Ghule und Geister]]
  
 
==Quellen==
 
==Quellen==

Version vom 29. Januar 2020, 09:36 Uhr

Bei den folgenden Text handelt es sich um die Fortsetzung der Memoiren eines Lichtträgers aus dem Tagebuch des Runners Silencio, aus dem später die Aufzeichnungen des Teams Bulletproof wurden, welches schließlich den Orden der Lichtträger neu gründete.
Jedes initiierte Mitglied der Lichtträger erhält ein Exemplar dieser Aufzeichnungen unter der Auflage es nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, dennoch erschienen Ende 2075 erste Teile der Aufzeichnungen in verschiedenen Data Havens. Ob es sich um Verrat oder eine Art von Rekrutierungsflyer der Lichtträger handelt ist bislang unbekannt.
Der aktuelle Stand der Veröffentlichung hier, entspricht dem Stand der Veröffentlichung ingame vom 15.10.2076.

Bisher erschienene Kapitel:


Achtung Spoiler! SPOILERWARNUNG! Achtung Spoiler!
Dieser Text kann Informationen enthalten durch die der "Genuss" folgender Romane und Abenteuer eingeschränkt wird:

Romane:

Abenteuer:


Timecode 14.06.2054 / 20:00:00

Cover "Eye Witness"
© FASA

In den Tagen nach dem Urban Brawl Massaker war es wieder einmal zu vermehrten Übergriffen auf Metamenschen gekommen und wie immer hatte Lone Star seine Negativbilanz, was die Aufklärung solcher Übergriffe anging, verbessert. Während einige Metamenschen mit eingeschlagenem Schädel im Krankenhaus lagen, die Mehrheit aber in irgendeiner Gosse einfach verblutete, war ich bisher noch relativ unbeschadet davon gekommen. Vor zwei Tagen hatten ein paar Idioten “Verpiss dich, Freak!” auf mein Garagentor gesprüht. Darüber hatte ich nur müde lächeln können und ein ernstes Wort mit einem gewissen Gangboss gewechselt. Schließlich zahlte ich nicht umsonst einen nicht unerheblichen Teil meiner “Miete” an ihn, damit genau solche Dinge ausblieben.
Aber jetzt gingen diese Rassistenärsche eindeutig zu weit. Wie mir meine Überwachungskamera verriet, hatte sich eine kleine Gruppe, sechs oder sieben Mann dieser hohlen Glatzen, mit Mollis bewaffnet vor meinem Garagentor versammelt und führte ein Zielwerfen durch.
Ich warf mich in meine Panzerjacke, fuhr meinen Booster hoch, stellte die notwendige Kommunikation zu meinem Predator her und öffnete das Mannluk. Diesmal keine netten Worte.
Sechs Mann in der Einfahrt. Vier davon noch mit brennenden Pullen in der Hand. Ich entschied mich für einen der eher zentral stehenden Molliträger und schoß ihm das Knie weg. Wie zu erwarten, knickte der Hohlschädel ein und ließ dabei seinen Molli mitten in der Gruppe fallen, was eine nette Kettenreaktion erzeugte.
“Molliträger zu Aschehaufen”, dachte ich mir und behielt die Hohlschädel im Fadenkreuz meiner Smartgun. Die beiden, die ihre Mollis bereits gegen mein Garagentor geworfen hatten, schalteten am Schnellsten, suchten ihr Heil in der Flucht und rannten dabei in eine mir unbekannte Brünette, die gerade an der Einfahrt vorbeispazierte. Ich überlegte kurz mit meinem Predator nette Löcher in ihre Schädel zu stanzen, als ich mitbekam, daß dies wohl Munitionsverschwendung gewesen wäre.
Mit einer Reaktionszeit, die ich der Kleinen nicht zugetraut hätte, wich sie den Angriffen der Flüchtenden aus, um mit einer geschmeidigen Bewegung eine Monofilamentpeitsche zu ziehen und den beiden die Flucht unmöglich zu machen. Läuft sich echt scheiße auf blutigen Stümpfen.
Von den verbliebenen Vieren waren zwei schlau genug, sich auf den Boden zu werfen und sich hin und her zu wälzen, um die Flammen zu ersticken. Die anderen beiden rannten brennend davon.
"Hey, vergesst eure Kumpels nicht!" brüllte ich den Idioten hinterher.
Die Brünette bewegte sich ziemlich selbstsicher in meine Richtung und ich fragte mich, ob sie ein Problem werden würde. Ich schätzte sie auf Ende zwanzig. Etwas über einen Meter siebzig groß, mittellanges, brünettes Haar, ortsübliche Panzerjacke und Monofilamentpeitsche…hmm, da klingelte nichts bei mir.
"Hi, ich bin leon. Kleines Barbecue oder hast du ernsthafte Probleme?" Ein schelmisches Lächeln legte sich auf ihre Lippen, und ich war mir nicht ganz sicher, ob sie das sympathischer machte nach dem, was sie gerade mit der Mono abgezogen hatte.
"Silencio. Freut mich.", entgegnete ich, während ich die letzten beiden Arschgesichter dabei beobachtete, wie sie ihre "zurechtgestutzten" Kumpane davonschleppten.
"’n Bier dazu?", fragte ich und versuchte, sie mit Blicken nach weiteren Waffen abzusuchen.
"Aber nur wenn es kalt ist.", grinste leon zurück.
Damit war das Eis gebrochen, und ich winkte sie in meine Garage.

Wenig später, leon und ich waren noch beim ersten Bier, tauchte Jack auf.
"Was'n hier passiert?", wollte er wissen, als ich das Garagentor hochfuhr, um ihn vernünftig reinzulassen.
"Nichts weiter. 'n paar Idioten haben 'ne Grillparty veranstaltet." Ich zwinkerte dem Troll verschwörerisch zu. Die Schattengerüchteküche würde ihr Übriges tun.
"Darf ich vorstellen? Das ist leon. 'ne Expertin im Umgang mit der Mono und mit noch ein paar weiteren Talenten gesegnet. Sie ist neu in der Stadt und sucht Arbeit.", fasste ich zusammen, was ich bisher in Erfahrung gebracht hatte.
"’ne Braut? Wissen JD und Ator schon davon?" Offensichtlich war Jack etwas irritiert.
"Mach dir mal keine Sorgen, Großer. Du darfst weiter im Stehen pissen.", meldete sich leon zu Wort.
"Aber nicht auf meinem Klo!", warf ich ein, nur um keine Mißverständisse aufkommen zu lassen.
Bevor wir das Thema weiter vertiefen konnten, erschienen Ator und JD in der Einfahrt und begutachteten ihrerseits die Brandschäden.
"Ärger?", wollte JD wissen.
"Nö, jetzt nicht mehr.", erwiderte ich breit grinsend.
Ator schien leon mit den Augen auszuziehen, aber ich wusste, daß er sie lediglich einem astralen Check unterzog. Ich würde ihn später danach fragen, denn noch ehe ich die Vorstellungsrunde eröffnen konnte, klingelte mein Kom.
"Ich hätte da etwas Eiliges für euch." ertönte eine uns bereits bekannte Stimme. "Heute Abend in der Leichenhalle des Zentralfriedhofes – und bringt eure neue Lady mit." Dann wurde die Verbindung unterbrochen und vier Augenpaare richteten sich fragend auf leon.
Es war unzweifelhaft Mr. Brackhaus, der Johnson, mit dem wir vor dem Urban Brawl Massaker so erfolgreich zusammengearbeitet hatten, aber woher, bei allen Teufelsratten der Seattler Kanalisation, wusste er von leon?

Timecode 14.06.2054 / 21:30:00

Nachdem leon glaubhaft versichert hatte, weder einen Mr. Brackhaus zu kennen, noch zu wissen, woher dieser von ihrer Anwesenheit wusste, beschlossen wir, der Aufforderung unseres "Gönners" nachzukommen und nahmen sie mit zum Zentralfriedhof.
Ich hatte ja schon an einigen außergewöhnlichen Plätzen Geschäftsbesprechungen gehabt, aber eine Leichenhalle hatte bisher nicht dazu gehört. Und wenn ich ehrlich bin, gefiel mir der Ort gar nicht, denn zu schnell konnte man in meinem Biz selbst hier landen.
Wir suchten den Hintereingang der Halle und trafen dort auf Mietmuskeln, die deutlich über dem Durchschnitt zu arbeiten schienen. Offensichtlich hatte hier jemand in Sicherheit investiert, was meistens kein gutes Zeichen war.
Einer der beiden brachte uns in ein Hinterzimmer voller Särge, in dem wir von einer dunkelhaarigen Frau in blauem Leder erwartet wurden. Der Remington Roomsweeper in ihrer Hand und der Ausdruck in ihrem Gesicht verhießen nichts Gutes.
Mit einer lässigen Handbewegung entließ sie unseren Begleiter und nahm Augenkontakt zu mir auf. Ich kannte diesen Blick. Irgendwas war schief gelaufen, und diese Lady würde Einiges tun, um es wieder gerade zu richten. Sie legte den Roomsweeper auf einem der Särge ab. Ein Vertrauensbeweis?
"Danke, daß ihr gekommen seid. Entschuldigt die Umstände, aber ich habe meine Gründe.", begann sie. "Einige von euch kennen mich vielleicht als Alpha Blue."
Bei mir klingelte nix, aber das musste nichts bedeuten. Es gab eine Menge Runner in diesem Plex. Als auch die anderen kein Zeichen des Erkennens zeigten, fuhr sie fort.
"Ich bin eine freischaffende Spezialistin wie ihr, aber diesmal ist es privat, und deshalb brauche ich euch. Jenseits der Straßen kennt man mich als Erin Scott. Ich weiß, daß es unüblich ist, so offen zu sein, aber ich brauche euer Vertrauen und habe weder Zeit für die üblichen Spielchen, noch möchte ich, daß ihr welche darauf verschwendet. Ihr seid Profis und ich bin es auch. Belassen wir es dabei und beginnen mit der Arbeit."
Ich war mir nicht sicher, ob ich Einzelheiten wissen wollte, bevor wir handelseinig waren, aber bevor ich das einwerfen konnte, begann sie ihre Story.
"Letzte Nacht hat jemand kaltblütig meinen Bruder Neil auf dem Heimweg von seinem Büro erschossen. Heute Morgen las ich dann eine sehr interessante Mail, die er kurz vor seinem Aufbruch im Büro geschrieben haben muss."
Sie zog einen Ausdruck, eine Blaupause und eine Visitenkarte hervor und reichte sie mir. Ein kurzer Blick auf die Visitenkarte und Blaupause ergaben für mich keine Hinweise. Erstere gehörte zu einem gewissen "Vanian", scheinbar ein Antiquitätenhändler, letztere sagte mir gar nichts. Blieb der Brief.
Es stellte sich heraus, daß es sich um eine "Abschiedsmail" handelte. Der Bruder unserer Auftraggeberin schien, durch einen gewissen Vanian – mein Blick wanderte kurz zur Visitenkarte – in den Besitz einer Blaupause – mein Blick wanderte zu der uns von unserer Auftraggeberin ausgehändigten Blaupause – gelangt zu sein. Wenn ich es richtig verstanden habe, versuchte er, den Sinn und Zweck dieser zu ermitteln und stieß bei seinen Nachforschungen auf einen gewissen Dutch Donovan, der für Multitech International arbeitete.
Die Blaupause schien Teil eines Plans für einen optischen Chip zu sein, dessen Sinn und Zweck nicht eruierbar schien. Allerdings war die Art der Konstruktion dazu geeignet, die Herstellungs- und Programmierungskosten des Chips dramatisch zu senken, was zwar leider zu einer deutlichen Leistungseinbuße, gleichzeitig aber zu einer deutlichen Gewinnsteigerung führen würde. Das war Brüderchen zu heiß, da er glaubte, Beweise in den Händen zu halten, die einen multinationalen Konzern belasten könnten. Er beschloß also, den ganzen Dreck wieder an Vanian zu übergeben, nicht ohne vorab diese Mail zu schreiben, sollte ihm dies nicht gelingen. "Ich glaube, Multitech steckt hinter dem Tod meines Bruders. Neil schrieb, er habe etwas Belastendes in der Blaupause gefunden und ich denke, das hat ihn das Leben gekostet." Alpha Blue biß sich auf die Lippen. "Ich möchte, daß ihr rausfindet, wo Vanian den Dreck her hatte, und daß ihr genügend Beweise sammelt, um es für die Bastarde von Multitech teuer zu machen."
Ich war mir nicht so ganz sicher, wie sie Letzteres meinte, aber ich konnte ihre Motivation nachvollziehen.
"Ich habe ein paar Freunde bei Lone Star, die dafür sorgen können, daß sich die Ermittlungen um Neils Tod etwas verlangsamen, so daß ihr den Blauen nicht ständig über die Füsse stolpert. Aber ich wette, Multitech ist noch im Spiel und wird versuchen, jedes lose Ende zu kappen. Was bedeutet, daß dieser Vanian auf ihrer Liste stehen dürfte."
So langsam dämmerte uns, daß wir also im Wettstreit mit einem Polizei- und einem multinationalen Großkonzern lagen, was Informationsbeschaffung anging. Und ich fragte mich, was dabei rausspringen würde. Alpha Blue schien meine Gedanken lesen zu können oder hatte eben einfach genügend (eigene) Erfahrung mit den Bedürfnissen angeheuerter Runner. "Ich kann euch 200K anbieten. 20 im Voraus, den Rest bei Lieferung."

"Ich bin dabei!", platzte Jack heraus, und ich hieb mir innerlich vor die Stirn. Wieso musste dieser Troll immer so vorlaut sein?
"Wie sieht's bei euch aus?", fragte ich die anderen, insbesondere unseren Neuzugang leon.
"Klingt für mich nach einem Job, den wir erledigen sollten.", meinte JD.
Ator faßte sich als Zeichen der Zustimmung nur kurz an die Stirn.
"Euer Sandkasten, eure Regeln.", grinste leon mich an. "Ich bin dabei, wenn mein Anteil stimmt."
Damit war es abgemachte Sache und weiteres Feilschen um den Preis war dank Jacks Eloquenz ausgeschlossen.

"Ich würde vorschlagen", fuhr Miss Scott fort, "ihr beginnt eure Nachforschungen in Neils Büro. Ich gebe euch die Adresse und eine Zugangskarte, so daß ihr euch dort umschauen könnt. Wenn ihr persönlichen Kram findet, wäre es nett, wenn ihr mir den mitbringt. Außerdem solltet ihr schnellstmöglich diesen Vanian aufsuchen. Ihr habt ja seine Karte. Ich habe außerdem etwas Beinarbeit erledigt und kann euch die private Adresse von Dutch Donovan geben und die der Multitech-Niederlassung, in der er arbeitet." "Dann her damit und vergiß den Vorschuß nicht.", übernahm Ator die Gesprächsführung und beendete das Briefing.

Timecode 14.06.2054 / 22:45:00

"Gibson Hall", wo sich Neils Büro befand, erwies sich als Hochaus in einem Industriepark, in dem praktisch jeder, der in der Lage war, die Miete sechs Monate im Voraus zu bezahlen, ein Office mieten konnte. Wir waren ohne Probleme an dem Wachmann im Erdgeschoß vorbeigekommen und auf dem Weg zu Neils Büro.

"Was ist denn da vorhin in dich gefahren? Ist doch sonst nicht deine Art, dich in dieser Weise in Geschäftsbesprechungen einzubringen.", sprach ich Ator an.
"Weiß auch nicht genau. Aber irgendwie hat die Alte genervt und ich hatte plötzlich das Gefühl wertvolle Zeit zu verschwenden." Ator zuckte mit den Schultern. "Ich hab mir die Kleine", er warf einen Blick in Richtung leon, "übrigens mal angeschaut. Ist 'ne Ki-Adeptin, wenn ich mich nicht irre."
"Nicht jetzt!", schnitt ich ihm leise das Wort ab. Ich wollte nicht, daß unser Neuzugang mit bekam, wie wir uns über sie unterhielten. "Laß uns erstmal auf den Job konzentrieren."

Auf dem Weg zu Büroeinheit 213 stellten wir fest, daß wir nicht die einzigen waren, die zu dieser Zeit in dem Hochhaus unterwegs waren. Neben vereinzelten Wachleuten, die unmotiviert durch das Gebäude zogen, schien auch in einigen der vermieteten Büros noch Betrieb zu sein.
Wir erreichten Neils Büroeinheit, öffneten und wurden von einer weiblichen Stimme begrüßt, die uns fragte, ob alles in Ordnung sei, weil wir so spät noch hier wären.
Nach einem kurzen Moment der Überraschung wies JD uns darauf hin, daß es sich um ein automatisches System handelte, welches offensichtlich installiert wurde, um soziale Interaktion vorzutäuschen. Tech-Freaks waren mir schon immer etwas seltsam erschienen. Jetzt bekam ich fast Mitleid.
Wir durchsuchten die Büroeinheit, die im Wesentlichen aus drei Computerarbeitsplätzen, einer Elektronikwerkstatt und einem Lager bestand. Neben einigem persönlichen Schnickschnack, den wir einsteckten, um ihn Alpha Blue auszuhändigen, fanden wir einen Cyberwarescanner, eine Fernsteuerung für ein Scharfschützengewehr und einiges an Elektronikwerkzeug, was wir für den persönlichen Gebrauch einsteckten, da Neil sicher keine Verwendung mehr dafür hatte.
JD wandte sich schließlich den Computerterminals zu und fand im Wesentlichen Daten eines Wettersatelliten, mit denen wir wenig anfangen konnten. Während JD noch in die Daten vertieft war, stieß Jack mich mit dem Ellbogen an.
"Sach mal, für was hälst du das hier?" Er deutete mit seinem wulstigen Zeigefinger hinter einen der Schreibtische.
Ich musste ein paar Schritte machen, um hinter den Schreibtisch schauen zu können und blieb wie angwurzelt stehen. Ich war mir nicht ganz sicher, aber für mich sah es nach einer Sprengladung aus.
"Ähem, JD? Könntest du bitte mal kurz einen Blick hierauf werfen?" sprach ich den Ork an.
"Alter, nerv nicht! Eins nach dem anderen, jetzt kümmer ich mich erstmal um die Daten hier.", gab dieser zurück. Ich seufzte innerlich. Subtile Betonung war also nichts für unseren orkischen Denker.
"Ich will dich echt nicht stressen, aber ich glaube das hier kann nicht warten." Ich hob den kompakten, etwa fünf Kilo schweren Kasten hoch und in das Blickfeld des ehemaligen Sicherheitsmanns.
JD hob die linke Augenbraue. "Okay, du hast Recht. Das geht vor. Stell das mal bitte gaaanz vorsichtig ab. Betonung auf "gaaanz", okay?"
Ich tat wie mir geheißen, und JD griff zu seinem Werkzeug. Nach wenigen Augenblicken war die Verschalung des Objektes gelöst, und wir sahen auf das Innenleben einer mit einem Zeitzünder versehenen Höllenmaschine, deren Counter bei "00:57" stand.
"Rückzug, aber flott!", preßte er hervor.
"Ihr wollt das Ding doch wohl nicht hier lassen?", wandte leon ein.
"Wird uns nichts anderes übrig bleiben – und jetzt raus hier!" Ich stieß Ator an, der während unserer Durchsuchungsaktion astral Wache gehalten hatte, um uns unangenehme Überraschungen zu ersparen.
Der Schamane öffnete die Augen. "Was'n los?", entrüstete er sich über die grobe Behandlung.
Ich deutete Richtung Höllenmaschine, deren Counter mittlerweile bei "00:51" stand.
"Oh…laßt uns gehen." Mehr sagte er nicht, während er sich erhob und sich in Richtung Ausgang in Bewegung setzte.
"Wenn ich das richtig einschätze, ist da genug Bumms drin, um die komplette Etage zu zerbröseln.", gab JD zu bedenken, als wir das Treppenhaus erreichten (Verlaß dich niemals auf den Fahrstuhl, wenn du schnell aus einem Gebäude gelangen willst).
"Wir sollten die Jungs hier drin warnen. Was sagst du, Silencio?"
Meine innere Uhr sagte mir:"00:42". Ich hielt kurz inne und schlug dann mit der Faust auf den direkt neben der Treppenhaustür angebrachten Feueralarm. "Reicht das für dein Gewissen?", fragte ich im Tonfall eines Supermarktkassierers. JD zeigte mir den erhobenen Daumen.
"00:39"
"Na denn…", setze ich an, und wir beide rannten los.

Timecode 14.06.2054 / 23:50:00

Wir hatten unsere Fahrzeuge gerade rechtzeitig vor der Explosion und dem damit einhergehenden Regen aus Glassplittern, Metallfetzen und Betonbrocken erreicht. Wir wussten nicht, wieviele Personen noch rechtzeitig aus dem Gebäude gekommen waren, aber ohne uns wären es weniger gewesen. Ein dumpfes Gefühl der Wut machte sich in meinem Magen breit. Wieder einmal hatte ein Kon bewiesen, daß er einen Scheißdreck auf Menschenleben gab. Wer anderes als Multitech konnte hinter dieser Höllenmaschine stecken? Gleichzeitig bedeutete dies aber, daß wir uns ranhalten mussten, schließlich waren sie uns voraus.
Uns blieb also keine Zeit zum Durchatmen, und wir fuhren direkt zu Mr. Vanians Laden. Wie sich heraustellte, handelte es sich um einen Pfandleiher in einer eher heruntergekommenen Gegend Seattles. Eingeklemmt zwischen einem billigen Sexshop mit Live-Show und einem ranzigen Stuffer Shack wirkte das große und erstaunlicherweise unbeschädigte Fenster des Pfandleihers fast wie eine Provokation, es einzuwerfen. Es hatte zu regnen begonnen, und die sonst vor dem Stuffer Shack bettelnden Squatter hatten sich in einen Hauseingang verzogen. Ein Betrunkener wurde gerade aus dem Sexshop geworfen, als wir an diesem vorbeigingen, und kotzte uns direkt vor die Füße.
"Na super!", kommentierte Jack den Vorgang, um dann mit dem Betrunkenen die Kotze abzudecken. "Nich', daß da noch einer reintritt.", rechtfertigte er breit grinsend seine gute Tat des Tages.
"Leute, hier stimmt was nicht.", warnte JD, der gerade die Tür des Pfandleihers erreichte, sie mit einem Stupser aufstieß und gleichzeitig seinen Predator zog.
Meine Alarmsirenen schrillten in höchsten Tönen, und ich deutete Jack, die Klappe zu halten, was er schmollend mit verschränkten Armen tat.
leon huschte als Erste in den Laden, gefolgt von mir und Ator. Ein Geruch nach Kordit hing schwer in der Luft und ließ keinen Zweifel daran, daß hier vor Kurzem ein Feuergefecht stattgefunden hatte. JD und Jack folgten uns in den Laden und wir sahen uns um. Offensichtlich war uns abermals jemand zuvor gekommen. Im Büro des Ladens fanden wir einen Asiaten, dem mit einer großkalibrigen Waffe drei Mal in die Brust geschossen worden war. Wenig später stießen wir im Werkstattbereich auf einen zweiten Toten, bei dem Explosivmunition zur Anwendung gekommen war, weshalb von seinem Brustkorb deutlich weniger übrig war als von dem des ersten Verblichenen.
"Wenn's hier Kameras gibt", merkte John, auf eine wenig diskret angebrachte Kamera im Werkstattbereich deutend an, "dann gibt's auch 'ne Aufzeichnung." Während JD sich dem Computer des Laden widmete, beendeten wir die Durchsuchung und fanden im Lager zwei mit Magschlössern gesicherte Schränke, die offensichtlich unangetastet geblieben waren.
Ich hörte die Stimme unseres Krokomanten. "Dir ist schon klar, daß wir uns am Ort eines Gewaltverbrechens befinden und hier jederzeit die Bullen anrauschen können, oder?"
Ator sprach aus, was mir auch Sorgen bereitete.
leon drängelte sich an uns vorbei. "Laßt mich mal." Sie brachte eine kleine Werkzeugtasche zum Vorschein und machte sich daran, die Magschlösser zu öffnen.
Ich blickte von leon zu Ator. "Sie scheint's nicht zu stören…", versuchte ich eine Deutung ihres zielstrebigen Verhaltens.
"Jungs, ich hab die Aufzeichnung", rief JD von seiner Konsole herüber, während Jack leon interessiert über die Schulter schaute. "Und falls es euch interessiert, bis vor wenigen Minuten ging das Signal als Livestream raus. Aber fragt mich nicht wohin."
Wir ließen die Aufzeichnung durchlaufen. Leider war sie ohne Ton, so daß wir nur visuell mitverfolgen konnten, wie ein Dreier-Team Schlipse überraschend den Laden betrat, den Asiaten mit vorgehaltener Waffe ins Büro drängte, kurz befragte und dann sein Leben mit drei Schüssen in den Brustkorb beendete. Der hierdurch aufmerksam gewordene Techniker kam aus der Werkstatt und wurde Opfer einer Salve Explosivmunition aus einer MP. Die Schlipse filzten oberflächlich den Laden und machten sich dann, keine fünf Minuten vor unserem Eintreffen, aus dem Staub.
"News von der Magschlossfront", meldete sich leon aus dem Lagerraum. Ihrer Meldung folgte ein trollisches "Hui".
"Was Interessantes?", fragte Ator betont gelangweilt hinüber.
"Nüscht für dich, Zauberkugel", jubelte Jack zurück. "Zwei AK-97, ein verchromtes Scharfschützengewehr und Kleinkram. Aber nett." Der Troll schien in seinem Element.
"Und voilà", schummelte sich eine weibliche Stimme dazwischen, "offen ist der zweite Schrank." leon schien sichtlich stolz oder zumindest beruhigt, ihren Nutzen unter Beweis gestellt zu haben.
Im zweiten Schrank fanden sich neben allerlei elektronischem Alltagskram wie Taschensekretären und Datenlesern auch zwei rechte Cyberarme, ein Smartgun-Kit mit Maschinengewehr, montierbar auf einer Rapier, und ein noch eingepacktes Päckchen mit Adressaufkleber:
Jack Vanian
9280 Shady Hill Lane
Apt.# 2112
Redmond, Seattle, UCAS

Wir packten alles zusammen und wollten gerade den Laden verlassen, bevor doch noch die Blauen auftauchten, als ein Typ in braunem Cordanzug mit rosa Hemd, gefolgt von vier Miet-Guns den Laden betrat (private Mitteilung an mich selbst:"Immer die Umgebung im Auge behalten.").
"Guten Abend. Ich denke es gibt keinen Grund für unmotivierte Gewalt.", begann der Farbkontrast auf zwei Beinen. Der Blick des Unbekannten fiel auf Jack, der seine Wallacher gerade auf Betriebsgeschwindigkeit bringen wollte. "Mein Name ist Clean Steve, und wenn ich nicht irre, sind wir im gleichen Biz. Was uns eher zusammen als gegeneinander arbeiten lassen sollte."
Ich stoppte Jack mit einem Blick, konnte aber nicht verhindern, daß Ator einen Zauber auf die Neuankömmlinge warf. Die Miet-Guns fielen um wie Marionetten, denen man die Fäden kappt. Stevie schien auch zu kämpfen zu haben, blieb aber bei Bewusstsein. Ich steckte meinen Kopf durch die Tür nach draußen.
"Nicht…!", hörte ich Stevie stammeln, dann streifte ein Presslufthammer meinen Schädel und ich zog meine Birne zurück. Blut floß schwallartig meinen Körper herunter und ich musste mich schwer mühen, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Ich taumelte, dann setzte ich mich einfach hin und plätscherte ein wenig.
"Sniper?", hörte ich leon fragen.
"Rückendeckung. Ich bin doch nicht irre und komme ohne.", erwiderte der Runner.
Ator sprang in meine Richtung, kniete sich vor mich hin und kümmerte sich um meine Kopfverletzung. Kurz darauf war ich wieder halbwegs einsatzfähig. Manchmal finde ich Magie wirklich gut.
"Okay, wir haben eine klassische Pattsituation.", griff JD in das Gepräch ein. "Und wie lösen wir das jetzt auf?"
"Was'n das für 'ne Frage", regte sich Jack auf. "Die haben Silencio in den Kopp geschossen. Ich würd' sagen, damit haben sie ihren LBS verloren.", schloß er seine Meinung zum Thema ab.
"LBwas…?", echote es deutlich verwirrt von leon.
"LBS…Lebensberechtigungsschein", entgegnete der Troll, als wäre dieses Wissen eine Selbstverständlichkeit. "Bist echt nich von hier, waa?"
Ich wusste zwar nicht, wo Jack das wieder aufgeschnappt hatte, aber es gefiel mir, auch wenn ich nicht ganz seiner Meinung war. "Vielleicht sollten wir erstmal … reden….?", versuchte ich die Situation zu retten.
"Pah….reden. Sag bescheid, wennde damit fertig bist.", schmollte Jack.

Wie sich herausstellte war Stevieboy angeheuert worden, um ein Stück Hardware zu besorgen, welches er hier vermutete. Er hatte scheinbar mit dem Tod von Neil Scott nichts zu tun, schien aber durchaus bereit, Gewalt zur Durchsetzung seiner bzw. der Interessen seines Auftraggebers, über den er sich ausschwieg, einzusetzen. Auch wenn er es nicht direkt sagte, schien es naheliegend, daß er letztendlich die Blaupause suchte, die Alpha Blue für den Tod ihres Bruders verantwortlich machte.
Wir erzählten ihm, daß wir den gewaltsamen Tod eines freischaffenden Technikers untersuchten, ohne zu sehr ins Detail zu gehen.
Letztendlich lösten wir die Situation, indem wir gemeinsam Vanians Pfandhaus verließen, nachdem wir die vier Wasserträger wieder aufgepäppelt hatten. Clean Steve erwies sich als Ehrenmann und gab uns die Anschrift eines Clubs namens "Nosferatu" in Downtown, falls wir erneut mit ihm in Kontakt treten wollten.

Timecode 15.06.2054 / 01:20:00

Dank der Adresse auf dem Päckchen wussten wir, wo wir Mr. Vanian finden würden. Zumindest hofften wir dies.
Ator hatte die Zeit im Auto genutzt, um ein kleines Nickerchen einzuschieben, da er nach dem Schlaf- und dem Heilzauber, die bei der Begegnung mit Clean Steve notwendig geworden waren, etwas ausgelaugt war. Jack war voller Tatendrang und quasselte die ganze Zeit davon, wie einfach er uns alle aus der verfahrenen Situation hätte raushauen können, während JD versuchte ihm klar zu machen, daß Gewalt nicht immer die beste Wahl war. leon saß neben mir auf dem Beifahrersitz und schien sich ihr eigenes Bild von unserer Truppe zu machen. Mein Schädel dröhnte noch, aber zumindest hatte es aufgehört zu bluten, nachdem Ator seine Magie gewirkt hatte.

Shady Hill Apartments erwies sich als Gebäudekomplex für den gehobenen Anspruch. Entweder war Vanian deutlich besser im Geschäft, als wir bisher gedacht hatten oder wir hatten uns in der Adresse geirrt. Die weite, offene Lobby war eindeutig nicht dazu geschaffen, auf Leute wie uns einladend zu wirken, aber wir waren ja auch nicht aus touristischen Gründen hier. Die beiden Sicherheitsleute zeigten wenig Interesse an uns. JD schien zu wissen, was erwartet wurde, trug sich ins Gästeregister ein und wünschte ihnen einen schönen Abend.
"Scheinen nicht sonderlich motiviert, sind aber mit schweren Pistolen bewaffnet, können also im Ernstfall eingreifen. Wir sollten das hier ruhig über die Bühne gehen lassen.", kam die Einschätzung des ehemaligen Renraku-Sicherheitsmannes.
Als wir vor Apartment 2112 standen wechselte Ator kurz in den Astralraum, um uns etwas Klarheit über die Situation im Inneren zu verschaffen.

"Der Junge ist ordentlich nervös. Hat sich 'ne Knarre geschnappt. Ich denke, er erwartet ein Hitteam. Was kein Wunder ist, wenn er mitbekommen hat, was in seinem Laden passiert ist.", fasste Ator seine Erkenntnisse zusammen.
"Wir wollen nur reden.", ich blickte Jack in die Augen. "Nicht, daß da aus Versehen jemand zu Schaden kommt.".
"Wieso guckst du mich dabei so an?", fragte Jack mit völligem Unverständnis.
Ich sparte mir die Antwort und drückte den Klingelknopf. Keine Reaktion. Ich drückte erneut, diesmal etwas länger. Abermals keine Reaktion.
"Vanian, wir wissen, daß du da bist. Mach die verdammte Tür auf!". Irgendwie konnte ich ja verstehen, daß er sich tot stellte, aber es würde weder seine, noch unsere Situation verbessern.
"Laß mich mal.", mischte sich JD ein und schob mich von der Tür weg. "Wenn ich mich nicht irre, hast du gesehen, daß wir deinen Chummern nix getan haben. Also reiß dich zusammen und rede mit uns, daß ist vielleicht die einzige Chance, die du hast.".
Es dauerte ein paar Sekunden, dann öffnete sich die Tür einen Spalt. Der Lauf eines Predators schob sich nach draußen, gefolgt von dem verschwitzten Gesicht von Mr. Vanian.
"Was wollt ihr?". Vanians Stimme klang alles andere als selbstsicher und ich sah aus dem Augenwinkel, wie JD seinen Fuß in die Tür schob. Vanian würde sie nicht ohne Weiteres wieder schließen können.
"Wir ermitteln im Auftrag der Schwester von Neil und haben da ein paar Fragen.", begann JD.
Vanian wurde noch etwas blasser. "Was ist mit Neil?", wollte er wissen.
"Er ist tot und wahrscheinlich stecken die gleichen Leute dahinter, die in deinem Laden waren.".
"Drek, Drek, verfraggter Drek! Ich wusste gleich, daß Geschäfte mit Gangern Ärger bringen. Wieso musste ich mich auch darauf einlassen?". Vanian hieb sich mit der freien Linken vor den Kopf und seine Wohnungstür öffnete sich weiter. "Okay, kommt rein. Vielleicht sollten wir das lieber in meiner Wohnung besprechen.".

Vanian berichtete, daß vor einigen Tagen ein Ganger namens Breaker in seinen Laden gekommen war. Den Farben, die er trug, nach gehörte er zur "Iron Legion". Er hatte ein Cyberauge bei sich, daß er zu Cash machen wollte. Vanian hatte noch kurz gezögert, da noch Reste von Blut und Gewebe an dem Stück Hardware hafteten, da es aber ein vernünftiges Modell war und sich sicher schnell zu Geld machen ließ, hatte er sich breitschlagen lassen und den Deal gemacht.
Als er den Speicher des Auges überprüfte fand er die Blaupause, welche er an Neil schickte, mit der Bitte mehr darüber heraus zu finden. Seitdem habe er aber nichts mehr von Neil gehört und hatte mit Schrecken mitansehen müssen, was seinen beiden Angestellten passiert war.
"Wenn ich das richtig mitgeschnitten habe, hast du Aufzeichnungen deiner Kameras im Laden.", setzte JD nach. "Wäre es möglich ein Bild von diesem Breaker zu bekommen? Und die Jungs, die deine Angestellten erledigt haben, würden wir auch gern mal sehen…".
Vanian zögerte nicht eine Sekunde und ließ uns die Aufzeichnung des Überfalls sehen, während er in seinen Dateien nach einem geeigneten Bild von Breaker suchte.
Die Aufzeichnung brachte keine wesentlichen Informationen, außer, daß die Angreifer offensichtlich keine Skrupel besaßen Leben zu beenden. Das Bild von Breaker zeigte einen gehetzt wirkenden Ganger, vielleicht Anfang 20, in den blauen Kriegsfarben der "Iron Legion".
"Ich habe auch noch das Auge, falls ihr es gebrauchen könnt. Für kleines Geld könnte ich es euch überlassen.". Offensichtlich kam der Geschäftsmann in Vanian wieder durch und er verkannte komplett die Situation.
"Ich glaube nicht, daß du in der Position bist zu verhandeln. Rück's raus und wir machen uns dünne.", versetzte ich seinem Handelsversuch ein direktes Ende.
Er wollte noch irgendwas einwenden, aber Jack ließ nur seine Finger knacken und Vanian schluckte kurz, um uns dann ohne Gegenleistung das Cyberauge zu überlassen. Es handelte sich um ein Modell mit integrierter Kamera und weitgehend natürlichem Aussehen. Wir packten zusammen und verließen den Hehler, ohne ihn jemals wieder zu sehen.

Timecode 15.06.2054 / 04:00:00

Bei einer unserer Deckerconnections ließen wir das Auge überprüfen und erfuhren relativ schnell, daß es einem gewissen Griffin Moore gehört hatte. Gegen einen geringen Aufpreis erfuhren wir, daß dieser vor wenigen Tagen bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und im Hammond Necroplex seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Zuvor hatte er bei Multitech im Qualitätsmanagement gearbeitet. Der Kreis schloß sich.

Unsere Suche nach der "Iron Legion" zeigte sich als ebenso problemlos. Dank Carla Harrots, einer Tridreporterin aus dem Bekanntenkreis von Ator, erfuhren wir, daß die Strassengang heute sicher auf einer sogenannten "Blitz-Party" in der Brighton Mall zu finden sei. Sie selbst war an der Gang interessiert, weil sie vor wenigen Stunden in eine Schießerei verwickelt waren und sich im Trid ein Beitrag über zunehmende Ganggewalt noch immer gut machte.
Wir machten uns also gemeinsam mit ihr auf und waren ohne größere Probleme an einem riesigen Troll namens Balder vorbeigekommen, der als Türsteher nach eigenen Gutdünken entschied, wer "hot" genug für die Party war. Sicher hatten auch die 300NY Eintritt (pro Person), die wir anstandslos bezahlten, ihren Teil getan. Nach einigem Herumfragen gelangten wir an ein paar Ganger in den blauen Kriegsfarben und üblichen Kettenbehängen der "Iron Legion". Sie wirkten etwas mitgenommen und hatten schon einiges im Blutkreislauf, zwei von ihnen schienen Chips vorzuziehen, was sie nur noch weiter aus der Realität entrückte und uns, bzw. Carla, nur entgegen kam.

Wir ließen Carla den Vortritt und mimten ihre Bodyguards. Nach wenigen Minuten und einem 1.500 NY-Credstick hatte Carla ihre Story über eine Schießerei zwischen einer Gang und einem blonden Kerl in braunen Cord, was doch sehr nach unserem neuen "Freund" Clean Steve klang. Damit war uns aber nicht wirklich geholfen, es hieß nur, daß die Konkurrenz nicht schlief. Overdrive, wie sich Carlas Gegenüber genannt hatte, schien erst seit jener Schießerei einen Chefposten in der Gang zu bekleiden und wirkte in dieser Position etwas unbeholfen, wenn nicht gar überfordert.
Also mischte ich mich in das Gespräch ein. "Sag mal, kennst du nen Breaker? Hat mir mal geholfen und ich meine er gehörte auch zu Iron Legion…".
Overdrive wandte seinen Blick zu mir. "Breaker? Klar, war 'n Chummer von mir, hat ihn aber erwischt. Da kommste zu spät.".
"Shit! Du weißt nicht zufällig was über ein Cyberauge, daß er verhökert hat?", versuchte ich einen Schuß ins Blaue.
"Nee, aber wo ich so drüber nachdenke, haben die Freaks ihn ordentlich drangenommen…", ein gewisser Argwohn machte sich in seinem Gesicht breit, ich musste also vorsichtiger sein.
"Frag mal Emma, wenn er was erzählt hat, dann ihr.", kam es aus der zweiten Reihe der Ganger.
Overdrive fuhr wütend herum. "Halt die Fresse, Beam. Das ist der Grund, warum ich hier der Boss bin und nicht du: Du laberst zuviel!".
"Ich will mich ja nicht in eure Belange einmischen, aber wir würden für die Infos zwei Riesen berappen. Wer ist denn diese Emma? Vielleicht kann sie die Kohle ja gebrauchen.".
"Du hälst die Fresse!", fuhr Overdrive den eingeschüchterten Ganger abermals an und wandte sich dann wieder mir zu. Ich wusste, daß meine Chummer mehr als bereit waren, die Ganger innerhalb von drei Sekunden auszuschalten und blieb dementsprechend extrem cool, was Overdrive wohl ein wenig verunsicherte. Letztendlich bekamen wir die Info und verließen die Blitzparty als Lone Star gerade anrückte, um sie zu beenden.

Timecode 15.06.2054 / 16:30:00

Wir hielten uns an die Anweisungen des Gangers, fragten im "Jackson's", einer heruntergekommene Kneipe in Puyallup, nach Emma, beriefen uns dabei auf "Beam" und bekamen die Adresse einer abrissreifen Mietskaserne in Puyallup.
"Was genau machen wir hier eigentlich? Wollten wir nich Multitech drankriegen?", fragte Jack, der irgendwie unzufrieden damit zu sein schien, wohin unsere Nachforschungen uns führten.
"Wir schließen die Beweiskette.", antworte JD, bevor ich unser Vorgehen erklären konnte. "Am einen Ende haben wir den toten Neil Scott, der mutmaßlich umgebracht wurde, weil er Nachforschungen über die Blaupause aus dem Cyberauge machte, am anderen Ende haben wir Multitech, bzw. Griffin Moore, der für Multitech gearbeitet hat und dem das Auge gehörte. Neil hat die Blaupause von Vanian. Vanian wiederum behauptet, daß Auge von Breaker bekommen zu haben. Gleichzeitig sollte es aber eigentlich gemeinsam mit Griffin Moore im Hammond Necroplex liegen. Wie also kommt Breaker in den Besitz des Auges?".
"Und wieso fahren wir nicht bei diesem Necroplex vorbei und schauen uns da mal um?", wandte leon ein.
"Unser Sandkasten, unsere Regeln, um dich an dieser Stelle zu zitieren, meine Beste.", ich wandte den Kopf zu leon. "Wir versuchen so wenig Aufmerksamkeit, wie möglich auf uns zu lenken, zumal mindestens zwei weitere Parteien im Spiel sind.". Damit war meines Erachtens alles gesagt und ich stieg aus dem Wagen aus.

Die marode Tür von Emmas Wohnung wollte schon bei unserem ersten Anklopfen aus den Angeln fallen und leistete daher wenig Widerstand, als wir sie, nachdem auf unser Klopfen keine Reaktion erfolgte, gewaltsam öffneten.
Eine Katze kam uns im Flur entgegen und schlich Ator zwischen den Beinen umher, während wir die Wohnung in Augenschein nahmen. Im Wohnzimmer fanden wir Emma. Sie lag angestöpselt an einen SimSinn-Player auf einem abgeranzten Sofa, daß mehr Flecken als Ursprungsfarbe zeigte und schien weit entrückt zu sein. Einige der Flecken schienen noch feucht und es war naheliegend, daß es sich um Ausscheidungen von Emma handelte. Wie lange lag die schon eingestöpselt hier?
"Die Mieze ist mehr, als sie zu sein scheint.", gab Ator zum Besten, der ein wenig genervt von seinem neuen Anhänger war. "Astral ist sie deutlich größer. Muss sich um irgendeine erwachte Form von Katze handeln, wir sollten sie nicht unterschätzen.".
"Ator hat Schiß vor 'ner Pussy!", gröhlte Jack. "Ich werd' sie für dich im Auge behalten, nich' das Miezi dir noch die Augen auskratzt. Harharhar…".
JD war mittlerweile an Emma herangetreten und zog den Stecker, durch den Emmas Gehirn mit programmierten Sinneseindrücken gefüttert wurde.
Es dauerte eine Weile bis sich Emmas Blick ein wenig klärte. "Ihre Vitalzeichen sind nicht gerade doll. Ich glaube, sie ist kurz vor dem Verdursten.", sagte Ator und ging in die Miniküche der Wohnung, um kurz darauf mit einem dreckigen Glas voll Wasser zurück zu kehren. "Und ich bin mir sicher, sie hält nichts von Hausarbeit!".
"Sagt der Kerl, der immer auswärts ißt und Bier nur aus Flaschen trinkt.", gab ich eine kleine Spitze zurück.
Ator ging nicht darauf ein, setzte sich neben Emma auf die Couch und flößte ihr schlückchenweise das Wasser ein. Zunächst schien Emma lethargisch alles nur über sich ergehen zu lassen, aber als das Glas etwa zur Hälfte leer war, schien sie in der Realität anzukommen und schob das angebotene Glas beiseite.
"Wer seid ihr und was wollt ihr? Ich habe nichts.". Sie hatte offensichtlich Schwierigkeiten sich zu artikulieren.
"Wir sind Freunde von Breaker und hätten nur ein paar Fragen…". Ich zog einen Credstick hervor und ließ die Summe von 1500 NY erscheinen.
"Breaker ist tot…", begann sie zu schluchzen.
"Das wissen wir. Aber wir hätten ein paar Fragen zu einem Cyberauge, daß er vor einigen Tagen an einen Schieber verhökert hat und es soll dein Schaden nicht sein.", versuchte ich die Gönnermasche.
"Möglicherweie hat das sogar etwas mit seinem Tod zu tun.", ergänzte Ator, der fasziniert die Katze von Emma im Auge behielt, während JD sich dem Simsinn-Player widmete.
Emmas Blick hing am Display des Credsticks. "Ja, ich erinnere mich. Breaker ist mit 'n paar von der Legion losgezogen. Ghuljagd, hat er gesagt. Sie mussten Creds besorgen, weil Lone Star Kaution für 'n paar Ganger verlangte.", sie schluckte. "Verdammte Biester! Aber 'ne einfache Methode, schnell die notwendige Kohle aufzutreiben. Jedenfalls tauchte Breaker mit diesem Cyberauge wieder auf. Er meinte, er hat es in 'nem Ghulnest gefunden. Hätte in 'nem halb abgenagten Schädel gesteckt. Bäh…, wenn ich nur dran denke, der Geruch und das Blut, ich könnt' kotzen!".
Ich reichte ihr den Stick, hielt ihn aber noch fest. "Du hast nicht zufällig 'ne Ahnung, wo sich dieses Ghulnest befindet?".
Die Braut versuchte tatsächlich, mir den Stick zu entreißen. "Inner Kanalisation. Wo sonst?".
Ich spreizte den kleinen Finger vom Credstick. "Und die ist ja hier nicht gerade klein.".
"Wennde glaubst, ich steig da mit euch runter, haste dich geschnitten.", sie zog mit beiden Händen an dem Stick.
"Aber vielleicht zeigst du uns zumindest, wo Breaker reingestiegen ist….", ich spreizte nun auch den Ringfinger, um meine grundsätzliche Bereitschaft, ihr den Stick zu überlassen, zu demonstrieren.
"Okay, ich bring euch hin. Aber laß endlich den verfraggten Stick los!", ein feine Wolke Speichel und Rotz begleitete ihre Äußerung, aber ich war nicht nachtragend, wenn ich bekam, was ich wollte.

Emma lotste uns durch die langsam dunkel werdenden Straßen Puyallups und jeder von uns spürte die Blicke der Verzweifelten, die überlegten, ob wir Jäger oder Beute waren. leon blickte sich immer wieder um und schien beunruhigt.
"Mach dir keine Sorgen, Kleine. Solange Jack bei dir ist, passiert dir hier nichts.", versuchte Jack sie ein wenig zu beruhigen und gleichzeitig aufzuziehen.
"Ich mach mir keine Sorgen, ich frage mich nur gerade woher sie wissen, wann sie lieber in ihren Verstecken bleiben?".
"Instinkt, Erfahrung, natürliche Auslese!", versuchte JD eine Erklärung. "Wer nicht genügend Instinkt hat, macht so seine Erfahrungen und die führen wiederum zu natürlicher Auslese.", seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, daß es sich hierbei um seine professionelle Einschätzung handelte.
"Hier überlebst du nur, wenn du weißt, auf wen du dich verlassen kannst und wem du besser aus'm Weg gehst.", warf Emma ein. Damit schien alles gesagt und wir schwiegen den Rest des Weges.
Schließlich erreichten wir eine Kreuzung und Emma deutete auf einen Gullydeckel. "Da sind sie rein!". Ohne ein weiteres Wort drehte Emma sich um und ging davon.
leon machte Anstalten sie aufzuhalten, aber JD hinderte sie. "Laß sie. Ich hab' mir ihren Player angesehen. Sie hat ihn manipuliert. Dreamchips, BTL, daß ist ihre Realität. Wir können froh sein, daß sie in der Lage war, uns hierher zu führen.".
leon warf ihr einen traurigen Blick nach, dann wandte sie sich dem Gullydeckel zu.
An der Ecke der Kreuzung saß eine gepardengroße Katze, maunzte und wandte sich dann ab, um Emma zu folgen…

Timecode 15.06.2054 / 21:30:00

Wir stiegen durch den Gullydeckel, den Emma uns gezeigt hatte, in die Kanalisation hinab. Eine fast angenehme Wärme empfing uns, wäre sie nur nicht mit den Gerüchen von Fäkalien, Erbrochenem und Verwesendem geschwängert gewesen. Aber es half alles nichts: wir hatten eine Spur und folgten ihr.
Mir kamen die urbanen Legenden über ausgesetzte Alligatoren in den Sinn, und ich schaute zu Ator, der sich hier doch mehr als heimisch fühlen musste.
"Macht euch keine Gedanken", beruhigte der von mir angepeilte Schamane uns, als ob er meine Gedanken hätte hören können. "Alligator wird meine Schritte hier unten lenken. Das hier ist sein Reich und er duldet keine Rivalen.". Ators Gesichtshaut nahm im Schein unserer Taschenlampen einen ledrig-grünen Farbton an. Folgte er tatsächlich einem Totem, das auf der urbanen Legende ausgesetzter Alligatoren beruhte? Ich hatte mich bisher nicht weiter damit auseinandergesetzt, da ich Ators Geschwafel über "Alligator" immer als psychologischen Mumpitz abgetan hatte. Die Selbstsicherheit und fast schon Arroganz mit der Ator jetzt durch die Kanalisation stapfte ließ mich nachdenklich werden.
"Ich werde einen kleinen astralen Erkundungsgang machen. Geht schneller und ist sicherer, als wenn wir hier planlos herumirren.". Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, ließ er sich auf einem trockenen Stück der Kanalisation nieder und sackte in sich zusammen. Wir gruppierten uns um ihn herum und warteten.

Hier und da hörte man das Fiepen von Ratten und das Plätschern von Abwasser, aber über allem lag ein faulig-warmer Geruch nach Verwesung. Wir hatten die Taschenlampen ausgeschaltet, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.
"Der Gestank is' echt übel! Ich frag mich, wie man es hier unten auf Dauer aushalten kann?". Jack spuckte in hohem Bogen aus und mein Blick folgte dem ballistischen Flug seiner Rotze, die aufgrund ihrer Körperwärme auch im Dunkel der Kanalisation für meine infrarotsichtigen Augen sichtbar war.
"Tja, wenn man nur die Wahl hat zwischen auf den Straßen sterben oder unter ihnen leben, fällt der Geruch wohl nicht mehr so ins Gewicht.", gab ich meine desillusionierte Sicht der Dinge wieder.
"Und dann darf man nicht vergessen,", gab JD zu bedenken, "daß es für einige wichtig ist, ein Fleckchen zu haben, an dem sie nicht dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Und da rede ich jetzt gar nicht von Ghulen oder anderen Kreaturen. Denk doch nur mal an die weit verbreiteten Sonnenlichtallergien bei den Metamenschen.”.
"Schon klar,", brummte Jack, "aber trotzdem, ich würd' hier nicht runterziehen. Da fließt die Scheiße doch wortwörtlich durchs Wohnzimmer.". Offensichtlich hatte der Troll den Unterschied zwischen "wortwörtlich" und "sprichwörtlich" endlich gecheckt.

Schließlich schlug Ator die Augen auf. "In diese Richtung!", murmelte er nach links deutend. Mehr sagte er nicht.
"Alles klar bei dir? Du wirkst etwas mitgenommen.". Ich hatte Ator nur selten so erlebt.
"Ihr werdet gleich sehen, was mich so mitgenommen hat. Wobei ich fast glaube, die astrale Wahrnehmung ist die schlimmere…", winkte er ab.
Wir folgten dem Haupttunnel ca. einhundert Meter, dann deutete uns Ator abzubiegen. Nach zwei weiteren Richtungswechseln und insgesamt vielleicht fünfhundert Metern erreichten wir eine Kaverne, die sich über zwei Ebenen erstreckte. Wir befanden uns auf der oberen, auf der drei Zuläufe den möglichen Rundgang unterbrachen. Eine Rampe verband beide Ebenen, an deren Ende ein Haufen unidentifizierbarer Dinge lag, der einen solchen Verwesungsgeruch von sich gab, daß mir der Atem stockte.
"Ator, wo hast du uns da hingeführt?", fragte ich, mühsam den aufsteigenden Brechreiz unterdrückend.
"Vorratskammer? Leichenhalle? Macht euch selbst ein Bild.", erwiderte Ator und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den Haufen.
Zuerst war keinem von uns klar, was er meinte, denn im Schein der Taschenlampe wirkte der Haufen wie aufgetürmte Dreckwäsche. Erst als JD und ich uns näherten, während Jack und Ator auf der oberen Ebene verblieben, um uns Rückendeckung zu geben, erkannten wir, daß es sich um menschliche Körper in Leichenwäsche handelte.
Schlurfende Geräusche aus zweien der Kanäle, die in die untere Ebene der Kaverne führten, lenkten unsere Aufmerksamkeit in diese Richtung.
Mehr als ein Dutzend erstaunlicherweise ausschließlich weibliche und junge Ghule näherten sich mit gebleckten Zähnen. Noch ehe ich eine Entscheidung treffen konnte, warf Ator einen Feuerball in die Menge. Ein der Körpergröße nach vielleicht 6-7 Jahre altes Ghulmädchen ging in Flammen auf, bei mehreren anderen brannte der eine oder andere Kleidungsrest, und die gesamte Horde trat schrill schreiend den Rückzug an. JD und ich schickten ihnen noch ein paar Salven Hochgeschwindigkeitsmunition hinterher, dann wurde es fast unheimlich ruhig. Nur das Knistern des brennenden Ghulkindes drang an unsere Ohren und irgendwie waren wir alle einen Moment still.
Mein Blick wanderte zu Ator, dessen Haut an Gesicht und Händen nun kaum noch menschliche Textur hatte. "Alligator duldet keine anderen Räuber in seinem Revier", ging mir durch den Kopf.
Schließlich war es JD, der die Stille durchbrach, nachdem er den Leichenhaufen untersucht hatte. "Die tragen alle Kleidung vom Hammond Necroplex. Aber wenn ich den Namensschildern glauben darf, ist kein Griffin Moore dabei.".
"Dann Abmarsch!" Ich schnaufte erleichtert. "Je schneller wir hier wegkommen, desto besser.". Der Geruch des langsam verbrennenden Ghulmädchens machte meinen Brechreiz nicht besser.
leon bekreuzigte sich kurz, dann wandte sie sich als erste zum Gehen.

Wir wanderten, geführt von Ator, der einen weiteren astral interessant erscheinenden Ort entdeckt hatte, durch die Kanalisation, in der Hoffnung doch noch Überreste von Griffin Moore zu finden.
"Silencio, ich glaube wir werden verfolgt.", sprach mich JD nach einiger Zeit an.
"Verfolgt? Hier?". Ich wollte es zunächst auf JDs Paranoia schieben, aber dann hörte ich auch die gedämpften Schritte, die zu keinem aus unserem Team gehörten.
"Sind nur ein paar Squatter oder wie ihr sie hier nennt.", meldete sich leon zu Wort. "Die folgen uns schon eine ganze Weile. Ich dachte, das sei euch bewusst.".
Ich zog etwas verärgert die rechte Augenbraue hoch. "Wär' echt klasse, wenn du uns sowas direkt mitteilen würdest, wenn es dir auffällt.".
leon lächelte nur verschmitzt. "Wie war das jetzt mit dem "Sandkasten"?".
"Eben drum!". Ich hob die linke Faust, als nonverbales Zeichen für alle, sich zu sammeln.
"An der nächsten Abzweigung bleiben Jack und Ator zurück, und wir nehmen sie in die Zange.", verkündete ich mit gedämpfter Stimme meinen schnell dahingeschluderten Plan.
Jack zeigte mir breit grinsend den erhobenen Daumen. Ator winkte nur ab, aber ich wusste, daß er sich dem Troll anschließen würde. Wir gingen weiter und ließen Jack und Ator an einem der nächsten Nebenkanäle in Deckung gehen. Ich aktivierte meine Smartgunverbindung und erhielt die beruhigende Meldung, daß meine HK 227S voll munitioniert und durchgeladen war. Bereit, mit Explosivmunition Frieden zu schaffen.

"Fünf Punks sind grad an uns vorbei.", kam Jacks Stimme über den Microtransceiver herein. "Soll ich mir einen greifen? Oder auch zwei…harharhar."
"Halt dich zurück, solange wir nicht wissen, was Phase ist.", gab ich zurück, als drei Gestalten um die vor uns liegende Ecke bogen. Zwei von ihnen trugen leichte Pistolen, der dritte war lediglich mit einem Baseballschläger bewaffnet. In ranzige Synthlederjacken und Jeans gekleidete heruntergekommene Punks, die ihrer Hautfarbe nach schon länger nicht mehr an die Sonne gekommen waren.
"Was wollt ihr hier?", preßte Baseballfan zwischen seinen aufgesprungen Lippen hervor.
Offensichtlich hatte er Schwierigkeiten, sich zu artikulieren. Ich gratulierte mir innerlich zu dem Entschluß, Ator und Jack als Rückendeckung zurückgelassen zu haben, auch wenn diese Jungs nicht nach ernsthafter Opposition aussahen.
"Wir wollen keinen Ärger machen.", versuchte ich die freundliche Variante. "Wir suchen eine Leiche. Griffin Moore. Könnt ihr uns da weiterhelfen?".
"Tote gibt's hier jede Menge.". Offensichtlich war Reden nicht seine Stärke.
"Hmmm, okay, versuchen wir es anders. Habt ihr 'n paar Ganger in blauen Farben und mit Kettenbehängen gesehen?". Wenn wir uns hier, wie ich annahm, in ihrem Revier befanden, war es nicht unwahrscheinlich, daß sie auch Breaker und seine Chummer gesehen hatten, als die auf Ghuljagd waren.
"Ja, die waren hier. Sind aber wieder weg.". Irgendwie hatte ich das Gefühl, Freund "Wortkarg" jede Info einzeln aus der verrotzten Nase ziehen zu müssen.
"Auf dein Zeichen sind sie Geschichte.", flüsterte der Microtransceiver mit Jacks Stimme. Die Jungs schienen zwar keine ernsthafte Bedrohung darzustellen, aber es war nie verkehrt, einen Troll mit ausreichend Feuerkraft im Rücken zu haben (Es sei denn, er gehört zur Opposition.).
"Könnt ihr uns vielleicht zeigen, wo die sich rumgetrieben haben?", versuchte ich, etwas mehr an Information zu erhalten.
"Ja.", war die einsilbige Antwort, die mich auf mehr hoffen ließ.
"Und?". Ich bemühte mich, meine Gereiztheit nicht zu zeigen. Mir ging das echt zu langsam.
"Ihr müsst mit "Teacher" sprechen.", erklärte der Punk, als sei damit alles gesagt. Ich blickte mich fragend um, sah aber in den Gesichtern meiner Chummer nur Fragezeichen.
"Dann bringt uns zu diesem "Teacher". Sollte möglich sein, oder?". Irgendwie nervte mich dieses Gespräch. Vielleicht war es aber auch nur die Umgebung und das Bild des verbrennenden Ghulmädchens, welches mir nicht aus dem Sinn gehen wollte.
"Folgt mir!", war alles, was Baseballfan sagte, bevor er sich zum Gehen wandte und wohl erwartete, daß wir ihm folgten.

Nach zwanzig Minuten, in denen wir meines Erachtens mehrfach absichtlich Umwege nahmen, erreichten wir eine Kammer, die ehemals wohl als Sammelbecken genutzt worden war, mittlerweile aber trocken lag. Die "Lost Boys", wie sich unsere Kanalpunks nannten, waren während des Weges relativ still geblieben und schienen auch jetzt keinerlei Erläuterungen für notwendig zu halten. Eine riesige, in eine Mönchkutte gehüllte Gestalt nahm uns in Empfang.
"Ich bin Abbott.", begrüßte er uns, während er sich zu voller Größe aufrichtete und damit selbst Jack überragte.
Nach einer kurzen Vorstellung unsererseits und der Beteuerung seinem "Meister", wie er ihn nannte, nur ein paar Fragen stellen zu wollen, führte uns Abbott in einen Teil der Kammer in dem nachträglich eine Art Wohnung eingerichtet worden war.
"Irgendwas ist hier falsch!", kam von Ator über Microtransceiver. Ich konnte nicht nachvollziehen was er meinte und warf ihm nur einen fragenden Blick zu.
Ator zeigte die klassische grünliche Hautfarbe, die er scheinbar stets annahm, wenn er mit seinem Totem in Kontakt stand. Irgendwas war also im Busch.
Wir wurden von Abbott durch eine Tür geführt und erreichten einen Raum, dessen Wände mit Zeichnungen unterschiedlichster Art verziert waren. Alle zeigten ein und das gleiche Motiv, einen reptilienartigen Kopf umgeben von Sternen, waren aber mit unterschiedlichen Techniken, von Kohlestift bis Graffiti, an die Wand gebracht worden. Ein einzelner Mann hielt sich hier auf und als er sich zu uns umdrehte, offenbarte sich ein Gesicht, welches an der Stelle der Augen nur zwei unförmige Narben zeigte. Mir lief es kalt den Rücken runter.
"Mein Name ist Alegheri. Wie kann ich euch weiterhelfen?", begrüßte uns der offensichtlich blinde, alte Mann.
In Anbetracht der Warnung von Ator war ich mir nicht sicher, wie viel an Information ich ihm zukommen lassen wollte. Da wir aber hier waren um Informationen zu erhalten, war ein Mindestmaß wohl nicht zu vermeiden.
"Wir untersuchen den Tod eines Bekannten, der möglicherweise mit etwas in Zusammenhang steht, was aus der Kanalisation stammt. Die Lost Boys meinten, du könntest uns da eventuell weiterhelfen..?". Offensichtlich schien Alegheri meinen Worten wenig Beachtung zu schenken.
"Erkennst du ihn?", fragte er in Richtung Ator und gab mir damit das Gefühl, mehr als überflüssig zu sein.
"Alter, ich weiß zwar nicht was deinen Geist zerrüttet hat, aber ich kann erkennen, daß du noch einen Rest von Macht in dir trägst. Also mach hier nicht auf blinder Seher, sondern rück die Infos raus und du bist uns wieder los.", entgegnete Ator in seiner üblichen schroffen Art.
Auch wenn ich dachte, Ator habe damit den Bogen überspannt, schien er genau den richtigen Ton getroffen zu haben. Alegheri berichete von den Gangern der "Iron Legion", die offensichtlich auf Kopfgeldjagd waren und diese auch ohne Skrupel durchführten. Drei Tage nach den Gangern kam eine zweite Gruppe von Leuten in die Kanalisation, offensichtlich auf der Suche nach etwas und nicht zögerlich mit dem Einsatz von Feuerwaffen. Aber auch diese waren wieder verschwunden. Alegheri hatte keine Ahnung, was sie gesucht haben könnten, während ich ziemlich sicher war, daß es sich um ein Team von Multitech auf der Suche nach dem Cyberauge handelte. Für uns war damit hier unten nichts mehr zu holen und wir machten uns alsbald auf den Weg aus der Kanalisation.

Timecode 15.06.2055 / 23:00:00

Wir hatten ohne weitere Zwischenfälle unseren Wagen, der noch vor Emmas Haus stand, erreicht. Offensichtlich hatten wir beim Verlassen des Wagens genug Eindruck bei den Bewohnern der Barrens hinterlassen, so daß niemand sich an ihm vergriffen hatte. Gleichzeitig bedeutete dies aber auch, daß man sich an uns erinnern würde. Ich startete die Karre und fuhr Richtung Tacoma.
"Was war denn da unten mit dir los, Ator?". Ich hatte es mir verkniffen, ihn innerhalb der Kanalisation zu befragen, da ich zu viele Ohren befürchtete. Jetzt in der relativen Sicherheit meines Autos konnte ich meine Neugier aber nicht weiter zügeln.
"Ich kann's dir nicht wirklich erklären. Kennste Nietzsche?", gab Ator zurück. In seiner Stimme lag eine ungewohnte Unsicherheit.
"Nee. Ist das ein Chummer von dir?", versuchte ich einen Schuß ins Blaue.
Von hinten hörte ich nur ein leises Kichern von leon. Offensichtlich lag ich falsch.
"Nein, war ein Klugscheißer aus Europa. Aber er hat einen Satz geprägt, der gut wiedergibt, was ich bei Alegheris Anblick verspürt habe: Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.”.
"Check ich nicht. Außerdem sind das zwei Sätze. War wohl echt 'n Klugscheißer.", gab Jack seinen Geistesblitz zum Thema ab.
Ator seufzte ergeben. "Okay, ich versuch’s mal anders. Der gute Alegheri ist ein Magier. Wie ihr gesehen habt, hat er keine Augen mehr….”.
"Ja, daß war echt crazy. Sah aus, als wären sie ihm rausgerissen worden. Ich hab' sowas schonmal gesehen, aber ihr wollt gar nicht wissen wo.", meldete sich JD zu Wort, und ich hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, daß wir noch lange nicht alles über seine Vergangenheit bei Renraku wussten.
"Ich glaube,", setze Ator seine Erklärungen fort, "er hat sie sich selbst herausgerissen. Seine Aura spricht dafür. Ich bin kein Spezialist im Askennen von Auren, aber ich glaube, er hat ein schweres psychologisches Trauma erlitten. Er versteckt sich vor etwas und scheint aus Angst, gefunden zu werden, sich selbst geblendet und dem Tageslicht "goodbye" gesagt zu haben. Und nein, ich habe keine Ahnung, wen er mit "ihn" meinte.”.
Ators letzter Satz ließ keinen Zweifel daran, daß für ihn alles gesagt war und so beließen wir es dabei.
"Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich würde gern eine Dusche nehmen.", lenkte leon unsere Gedanken nach einer kleinen Pause in eine völlig andere Richtung.
"Geht mir ähnlich.", stimmte ich ihr zu. "Ich würde sagen, ich fahr euch nach hause und wir treffen uns dann morgen wieder.". Somit würde sich für mich zufällig eine Gelegenheit ergeben, den Wohnort unseres Neuzugangs in Erfahrung zu bringen.

Timecode: 16.06.2055 / 15:00:00

Nach einem kurzen Meeting, bei dem JD die Ergebnisse seiner Matrixrecherche zum Hammond Necroplex präsentiert hatte, waren wir uns einig, dort zunächst als harmlose Angehörige von Mr. Moore aufzutreten und seine Ruhestätte zu inspizieren.
Die Information, daß es vor einigen Wochen im Necroplex zu einem Gasleck mit dreizehn Todesopfern gekommen war, nahmen wir zur Kenntnis, schien uns aber ohne Zusammenhang mit unserem Job.
Trotz jahrelanger Vernachlässigung der Fassade war das pyramidenförmige, graue Gebäude beeindruckend. Es überragte die umliegenden Gebäude um mehrere Dutzend Meter und hüllte sie in dunkle Schatten. Basierend auf der Größe des Gebäudes mussten hier Tausende von Menschen ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Laut Matrixinfo war der Necroplex tagsüber für die Öffentlichkeit zugänglich, also hatten wir uns in entsprechende Klamotten geworfen und mimten trauernde Angehörige.
Wir betraten die riesige, mit dunklen Säulen aus Marmor bestückte Eingangshalle und suchten uns eins der öffentlich zugänglichen Terminals, um den genauen Ort der letzten Ruhestätte von Griffin Moore in Erfahrung zu bringen. Zwei mürrisch schauende Sicherheitsleute warfen uns einen uninteressierten Blick zu, dann waren sie auch schon wieder verschwunden. Wir nahmen einen der Aufzüge und landeten auf Ebene 04. Laut Infoterminal befand sich Moores Körper in Gruft 04/117. Wir gingen durch die endlosen Reihen fast schmuckloser Gänge. Lediglich kleine Gasflammen erleuchteten die einheitlichen Namensschilder an den einzelnen Grabeinheiten.
Selbst Jack, der sonst immer für einen Spruch gut war, schien vom Ambiente beeindruckt und verkniff sich jeden Kommentar. Als wir schließlich vor dem Namensschild von Griffin Moore standen, unterschied es sich durch nichts von den Dutzenden anderen, an denen wir auf unserem Weg vorbeigekommen waren.
"Okay, wenn ich mich nicht stark irre, müsste das Grab leer sein.", rekapitulierte ich unseren letzten Informationsstand. "Das sollte uns also einen guten Grund liefern, mit dem Manager hier in Kontakt zu treten. Ator, könntest du das bitte kurz checken, bevor wir hier Alarm machen?", bat ich unseren Krokomanten.
Sollte das Grab wider erwarten nicht leer sein, würden wir improvisieren müssen, aber wer sollte da drin liegen, wo doch alles dafür sprach, daß Griffin Moore letztendlich als Ghulfutter geendet hatte.
Jack und JD stützten Ators Körper, während er in den Astralraum wechselte, um einen Blick in die Grabkammer zu werfen. Als er die Augen wieder aufschlug, erhielten wir die Bestätigung, die wir brauchten, um die aufgeregten Angehörigen zu mimen, wie es unser Plan vorsah.

Nach einem kurzen Gespräch mit zwei der Sicherheitsleute wurden wir zu Mr. Sinclair, dem leitenden Direktor, geführt. Dieser machte zunächst auf besorgter Kon-Mann, ließ aber schnell seine Fassade fallen, als wir ihn mit dem Grund unseres Hierseins konfrontierten. Wie sich herausstellte, hatte Mr. Sinclair eine neue Einnahmequelle für den Necroplex gefunden, der nicht ohne Konsequenzen geblieben war.
Um dem bevorstehenden Bankrott entgegen zu wirken, hatte er einen Deal mit einem anonymen Kunden aufgezogen, dem er gegen entsprechende Bezahlung "frische" Leichen hatte zukommen lassen. Das war zunächst einwandfrei gelaufen. Er hatte die toten Körper an einem nahegelegenen Eingang zur Kanalisation deponiert und war von einer Firma namens "Berkeley Management" bezahlt worden. Dann war ein Gruftgeist aufgetaucht und hatte innerhalb des Necroplex zu wüten begonnen. Es hatte Tote gegeben und Sinclair sah sich gezwungen, die Story mit dem Gasleck zu forcieren, denn wer würde seine Angehörigen noch in einer Einrichtung ihre letzte Ruhestätte finden lassen wollen, in der ein Geist sein Unwesen treibt.
Auch wenn sein Geschäftsgebaren sicherlich nicht mit der Ethikkommission der Bestatter in Einklang zu bringen war, war die Geschäftsidee an sich nicht schlecht. Letzendlich war es auch nur eine Art von Recycling und es erklärte das Auftauchen der Leichen in der Kanalisation. Wir hatten die Informationen wegen denen wir hergekommen waren und wandten uns zum Gehen.
"Entschuldigen Sie, wenn ich Sie noch kurz aufhalte,", begann Sinclair, "aber vielleicht könnten Sie mir ja bei der Lösung meines Problems behilflich sein?".
"Nur gegen Vorkasse!", kam unerwarteter Weise aus Ators Richtung. Ich wandte mich zu ihm um und bedachte ihn mit einem fragenden Blick.
"Guck nicht so verdutzt, Sille. Mr. Sinclair bedarf offensichtlich eines Geisterjägers, wenn an seiner Story etwas dran ist. Und wenn ich schon mal hier bin…". Ator zeigte ein breites Alligatorgrinsen und tippte an sein magisches Schwert.
"Ich sehe, wir verstehen uns.", bestätigte Sinclair Ators Implikationen.
"Sicher, und Sie werden verstehen, daß ich, nachdem Sie uns die finanzielle Situation Ihres Unternehmens geschildert haben, auf Vorkasse bestehen muss.". Ator hatte ja nur selten Probleme mit mangelndem Selbstbewusstsein, aber sein aktuelles Auftreten setzte dem Ganzen die Krone auf. Dennoch schien er den richtigen Ton getroffen zu haben, denn die beiden einigten sich auf 75K Nuyen, die Sinclair ohne Umschweife an Ator aushändigte.
"Ich werde mich direkt um Ihr Problem kümmern. Hätten sie vielleicht ein Sofa oder eine Liege für mich?".
Sinclair führte uns in einen Nebenraum seines Büros, in dem eine gemütliche Sitzecke und eine beachtliche Minibar untergebracht waren und ließ uns auf Ators Geheiß hin allein.

"Bist du sicher, daß du das so durchziehen willst?", fragte ich Ator, nachdem wir unter uns waren.
"Mach dir mal kein Kopp!", erwiderte Ator, während er es sich auf der Sitzecke bequem machte. "Ich könnte nicht bereiter sein. Ihr bewacht bitte meinen Körper.". Ohne auf Antwort zu warten, schloß er die Augen.
Wir hielten alle den Atem an… 21, 22, 23… und Ator schlug die Augen wieder auf. "Erledigt!". Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen erhob sich Ator. "Laßt uns gehen.".
Jetzt waren wir wirklich baff, folgten aber Ators Aufforderung ohne Umschweife und verließen den Necroplex, nachdem Ator noch Mr. Sinclair seine Telefonnummer gegeben hatte, damit dieser ihn kontaktieren könnte, sollte es nochmals Probleme geben. Der Manager hatte noch kurz Einwände erheben wollen, hatte sich aber Dank eines grimmigen Blickes von Jack eines besseren besonnen und stillgehalten.

Timecode 16.06.2054 / 21:00:00

Bevor ich meine Chummmer jeweils vor ihrer Haustür auslud (mit Ausnahme von leon, die sich an einem Taxistand hatte absetzen lassen), vereinbarten wir, ein wenig die Fühler nach "Berkeley Management" auszustrecken und uns gegen 21.00 in meiner Garage zu treffen, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen.
Ator war entgegen seinem üblichen Verhalten als erster erschienen, und so hatte ich die Möglichkeit, ihn unter vier Augen zu den Geschehnissen im Necroplex zu befragen. Es hatte mich schon während der Heimfahrt gewundert, daß Ator nicht von sich aus mit seinem Erfolg prahlte, und ich vermutete halbwegs irgendeine Gaunerei, wollte aber Ator vor den anderen im Zweifel nicht bloßstellen.
„Sach mal, Ator“, begann ich, als wir es uns gemütlich gemacht hatten, „was genau ist denn da jetzt abgegangen?“
„Du meinst den Geist?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „War Dank dieses“, er zog sein magisches Katana aus der Rückenscheide,“hervorragenden Waffenfokus‚ absolut keine Herausforderung.“ Er wischte mit Zeigefinger und Daumen über das blanke Metall der Klinge, als würde er es von Blut säubern, ließ einen prüfenden Blick über die Waffe wandern und steckte sie mit einer geschmeidigen Bewegung zurück.
„Letztendlich hab' ich ein wenig Radau gemacht.“, fuhr er fort. „Der Geist fühlte sich wohl provoziert und griff mich wild an und… naja, war mir und meinem Katana nicht gewachsen.“ Er grinste breit.
Irgendwie erschien mir diese Schilderung zu einfach für einen Geist, der dreizehn Personen auf dem Gewissen haben sollte, aber was blieb mir, als Ator Glauben zu schenken? Und tatsächlich wurde Ator von Mr. Sinclair nie mehr belästigt. Ich beließ es dabei.

Nach und nach trudelten die anderen ein. JD brachte Neuigkeiten über "Berkeley Management" mit. Es handelte sich um eine Briefkastenfirma, betrieben von "Agrippa&Associates", einem lokalen Müllentsorger. Ergab irgendwie keinen Sinn in meinen Augen. Warum sollte ein Müllunternehmer Leichen ankaufen?
Jack brachte zwar keine Neuigkeiten, aber zwei Sechserträger Soybier mit und fläzte sich auf meinen Futon, als sei es sein Privatsofa.
„So und was machen wir jetzt?“, fragte er beim Austeilen einer Runde Bier an alle, wobei er auch leon ungefragt eins zuwarf, die gerade durch das offenstehende Mannluk meines Garagentores hereinkam. Diese fing es mit einem beiläufig erscheinenden Griff in die Luft auf und öffnete die Dose sogar ohne die von mir erwartete Bierdusche.
„Gute Frage, Jack“, übernahm sie sogleich das Wort. „Und vor allem, wer ist jetzt schuld am Tod von Neil Scott und welche Beweise haben wir für Alpha Blue?“, erinnerte sie uns an unseren eigentlichen Auftrag.
„Letztendlich verweist alles auf Agrippa&Associates“, sprang JD ein. „Sie beziehen vom Necroplex die Leichen, wofür auch immer. Möglicherweise entsorgen sie die Reste in der Kanalisation, wo sie den Ghulen als Nahrung dienen. Hier findet dann Breaker das Cyberauge und alles geht seinen Gang. Über Vanian gelangt Neil in den Besitz der Blaupause. Seine Nachforschungen machen Multitech auf ihn aufmerksam und sie schicken ein Hit-Team. Dieses erledigt Neil, findet aber nicht, wonach es gesucht hat, also kreuzen sie nochmal bei Vanian auf und zerlegen seine Angestellten.“, fasste er unsere bisherigen Ergebnisse zusammen.
„Okay, aber wie passt Blondie in die Sache?“ Ich hatte unser Zusammentreffen mit Clean Steve nicht vergessen, und bisher hatten wir seinen Auftraggeber nicht ermittelt. Multitech schied für mich aus. Wieso dem ersten ein zweites Team hinterherschicken?
„Wenn wir nichts übersehen, kann der eigentlich nur von Agrippa kommen. Die Frage ist: warum?“, grübelte Ator.
„Oder“, warf JD ein, „wir haben noch einen unbekannten Player im Spiel, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Vielleicht sollten wir uns einfach mal mit ihm treffen…?“ Der Ork schien sich selbst nicht ganz sicher zu sein, ob das eine gute Idee war.
„Macht das mal“, entgegnete Jack. „Und ich werde mich mal nach Agrippa umhören, irgendwas klingelt da bei mir.“

Timecode 16.06.2054 / 23:30:00

Das "Nosferatu“ war in einer auf verlassene Kirche getrimmten ehemaligen "Mister Crunchy"-Filiale in Downtown untergebracht. Ein klassischer Treffpunkt für Poser und Konzern-Kiddies auf dem Goth-/Vampirtrip. Ich hatte Ator gebeten, mich zu begleiten, um gegebenenfalls einen astralen Blick auf die Anwesenden zu werfen. Ich glaubte zwar nicht wirklich daran, einen echten Vampir hier anzutreffen, aber man konnte nie wissen. leon hatte sich uns angeschlossen. Sie behauptete, "um ihre Ortskenntnisse zu vertiefen", ich hatte aber das Gefühl, daß es ihr Blondie irgendwie angetan hatte und das "vertiefen" nicht mit Ortskenntnissen verknüpft war.
Der Türsteher des Ladens, ein geschniegelter Ex-Söldner Anfang 40, ließ uns durch, nicht ohne leon ein paar schmierige Komplimente zu machen, und viel zu laute Musik empfing uns. Tische in Form von Sargdeckeln und Angestellte in schwarzem Leder versuchten vergeblich, ein gruseliges Ambiente zu schaffen, und wir hatten nur wenig Schwierigkeiten, Clean Steve mit seinem blonden Schopf und dem braunen Cordanzug unter all den schwarzgefärbten, in Leder- und Synthleder gehüllten Kiddies zu entdecken.
"Hi Folks…", begrüßte uns der Runner und deutete uns, an seinem "Sargdeckel" Platz zu nehmen. Ator warf einen kurzen Blick in Richtung einer brünetten Bedienung, die einen silbernen Ankh-Anhänger, wohl soetwas wie das Logo des Schuppens, an einer Kette um den Hals trug. "Sie gehört zu dir?", fragte er Stevie, bevor er Platz nahm.
"Nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme", erwiderte Clean Steve. "Ariel gehört zum Laden, aber ich vertraue ihr.".
Ich warf Ator einen Blick zu, aber da er nun anstandslos Platz nahm, blieb auch mir nichts anderes. leon schien etwas zögerlich, aber als Stevieboy aufstand, um ihr einen Stuhl zurecht zu rücken, war das Eis gebrochen.
"Wir haben dich nochmal um ein Treffen gebeten, weil wir irgendwie nicht weiterkommen und es naheliegt anzunehmen, daß dein Job und unserer irgendwie zusammenhängen.", begann ich.
"Hmm… kann sein.", antwortete Clean Steve relativ gelangweilt.
"Ach komm, Steve.", versuchte es leon mit ein wenig weiblichem Charme. Ich war mir nicht ganz sicher, ob dieses europäische Vorgehen bei einem nordamerikanischen Runner wie Clean Steve funktionieren würde, aber schaden konnte es nicht. "Letztendlich sind wir doch alle Profis und versuchen, unsere Jobs so reibungslos wie möglich durchzuziehen.". Während leon einen Schmelz in die Stimme legte, der mir Gänsehaut bereitete, musste ich an die Jungs denken, die jetzt auf ihren Stümpfen durch die Gegend wandelten und fragte mich, ob sie das unter "reibungslos" verstand.
"Okay, ich hab mich ein wenig umgehört und ihr scheint soweit in Ordnung zu sein. Meine Nachforschungen haben mich aber nicht wirklich weiter gebracht, was meinen eigentlichen Job angeht. Ich suche einen Teil einer Blaupause, der sich möglicherweise noch im Speicher eines Cyberauges befindet.".
Die Koinzidenz der Ereignisse schien schon beinahe lächerlich, aber wenn Stevieboy für Multitech arbeitete und Ariel, wie ich Ators Bemerkung entnommen hatte, sowas wie seine magische Rückendeckung war, wurde es jetzt eng für uns. Ich spürte den vertrauten Druck des Predators in meinem Tarnhalfter und wusste, daß auch leon nicht unbewaffnet war. Von Ator ganz zu schweigen – er war eine Waffe. Aber auch wenn es nicht zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam, würde uns die astrale Überwachung durch Ariel das Verhandeln mit Stevieboy nicht vereinfachen.
"Und was wäre da für uns drin?", versuchte ich möglichst unbeteiligt ein allgemeines Interesse vorzutäuschen.
Clean Steve taxierte mich einen Augenblick. "5K NY!", war die lapidare Antwort.
"Netter Versuch, Stevie-Boy! Aber für fünf Riesen steh ich auf und trink 'n Bier! Ich denke da müsste mehr drin sein.", mischte sich Ator ins Gespräch ein.
"Hmm…" Clean Steve setzte eine nachdenkliche Miene auf. "Vielleicht kann ich auch acht draus machen.".
Ich stützte meine Ellenbogen auf den Sargdeckel vor mir. "Sagen wir mal so: wenn wir hätten, was du suchst, es selbst nicht brauchen würden und es dir jetzt einfach rüberschieben würden, wäre ich mit 10K NY einverstanden.", versuchte ich, die Gesprächsführung wieder an mich zu reißen.
Clean Steve machte ein säuerliches Gesicht. "Eine Menge "wenn" und "würde", aber ich laß mich mal drauf ein: 10K NY bei Lieferung.".
Wir hatten den Preis innerhalb von wenigen Sekunden verdoppelt, also war entweder unser Verhandlungsgeschick deutlich besser, als erwartet oder da war noch deutlich mehr zu holen.
"Nun ist es aber leider so,", fuhr ich fort, "daß wir selbst ja nicht frei sind in unseren Entscheidungen, da wir einen Job übernommen haben und diesen gern erfolgreich beenden würden. Du erinnerst dich? Der Mord an dem Techniker?".
Clean Steve rieb sich kurz das Kinn, als bräuchte er ein paar Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen. "Multitech!?"
Mir stellten sich die Nackenhaare auf. leon änderte ihre Körperhaltung von "einladend herzlich" zu "alarmiert & sprungbereit". Nur Ator blieb entspannt und deutete mir mit einer Geste, daß er außer Ariel keine weitere Rückendeckung ausgemacht hatte, aber das bedeutete nicht, daß am Hintereingang des "Nosferatu“ nicht vielleicht ein Einsatzteam von Multitech gerade die Waffen bereit machte.
"War das 'ne Antwort oder 'ne Frage?", versuchte ich cool zu reagieren, während ich innerlich fluchte, weil wir Jack nicht mitgenommen hatten.
"Entspannt euch! Ich arbeite nicht für diese Dreksäcke.". Offensichtlich schätzte Stevie-Boy die Situation genau richtig ein und hatte auch kein Interesse an einer plötzlichen Erhöhung des Metallgehalts der Umgebungsluft. "Wenn ich das richtig sehe, arbeite ich eher gegen sie. Aber das soll euch nicht jucken. Wenn ihr habt, was ich suche, machen wir 'nen Deal und niemand erfährt von euch.".
Sollte das stimmen, veränderte es die Situation komplett und wir mussten alles neu überdenken.
"Okay, zur Kenntnis genommen.". Ich hoffte, daß meine Erleichterung über die gelungene Deeskalation nicht meine Stimmlage beeinflußte. "Aber irgendwie bringt uns das nicht bei unserem Job weiter, befürchte ich.".
"Also wenn ich euch richtig verstanden habe, ist euer Job die Klärung des Mordes an Neil Scott. Und dann? Wollt ihr den Killer stellen, den Auftraggeber zur Rechenschaft ziehen oder was?", platzte es aus Stevie-Boy heraus. "Das daß Irrsinn ist, brauche ich euch nicht zu sagen, oder?".
Der Junge hatte seine Hausaufgaben gemacht und wusste mehr über unseren Job, als mir lieb war, aber das war wohl nun nicht mehr zu ändern. Und er sprach tatsächlich eine Sache an, über die wir uns noch keine Gedanken gemacht hatten: Wie wollten wir es Multitech zurückzahlen? Oder besser "teuer" machen, wie Alpha Blue es formuliert hatte?
"Wir müssen mit unserem Johnson reden!", beendete ich das Gespräch und stand betont langsam, um keine ungewollte Provokation herbeizuführen, auf.
Clean Steve erhob sich ebenfalls. "Alles klar. Tut das, vielleicht ist es hilfreich, wenn ihr ihm sagt, daß es keinesfalls im Interesse von Multitech ist, wenn mein Johnson die Blaupause in die Finger bekommt. Es wird dann teuer und ärgerlich. Meldet euch, wenn ihr bereit für einen Deal seid.".

Wir verließen den Club Nosferatu und machten uns auf den Heimweg. Ator sondierte im Astralraum, konnte aber keine Verfolger feststellen und brach daher seine Überwachung unserer Heimfahrt nach wenigen Minuten ab.

Timecode 17.06.2054 / 01:15:00

JD und Jack waren noch nicht zurück von ihrer Tour, als leon, Ator und ich meine Garage erreichten. Wir hatten sie aber via Kom von unserer Rückkehr in Kenntnis gesetzt und erwarteten sie gegen 0200 zurück. Ich ließ mich schwer auf meine Lieblingssitzgelegenheit fallen und entspannte mich. Irgendwo, äh, unter dem Sofa entstand ein tiefes knurrendes oder flatterndes Geräusch, dessen Urheber ich sicher nicht sein konnte. Um niemandem eine Gelegenheit zu einem Kommentar zu geben, ließ ich auch meinen Gedanken freien Lauf: "Was haltet ihr davon, was Stevie da zum Besten gegeben hat?".
leon sah mich kurz an, verdrehte die Augen und antwortete aber trotzdem. "Irgendwie hat er Recht. Ich meine, welche Art von Beweisen haben wir und können wir damit irgendeinen Druck für Multitech aufbauen?". Sie war während der Rückfahrt erstaunlich ruhig gewesen und schien sich einige Gedanken gemacht zu haben.
"Tja, wir haben das Auge und die Blaupause.". Ator schien sich sehr für seinen Handrücken zu interessieren, denn er blickte nicht einmal auf, als er weitersprach, sondern fixierte die sich unter der Haut seiner Hand abzeichnenden Fingerstrecksehnen, während er die Finger bewegte. "Wir wissen, zumindest nehmen wir das an, daß Multitech Neil gegeekt hat und daß es, wenn wir Clean Steve in diesem Punkt trauen, mindestens einen weiteren Player mit Interesse an zumindest der Blaupause gibt.".
"Willst du damit sagen, wir sollten an Stevie verkaufen, Ator?". Ich war ein wenig verwundert, schließlich standen noch 180K NY von Alpha Blue aus, und ich war mir nicht sicher, ob wir diese dann kassieren würden.
"Nö, eigentlich wollte ich damit andeuten, daß wir nicht wirkich mehr harte Fakten in den Händen halten als zu Beginn des Auftrages und es vielleicht mal Zeit ist, Alpha Blue zu kontaktieren, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Ganz ehrlich, ich sehe nicht, wie wir Multitech ans Bein pinkeln können.".
"Wir könnten die Blaupause veröffentlichen. Schließlich ist es ein Beleg für Pfusch, oder?", versuchte leon auszuhelfen.
Ich machte eine zustimmende Geste. "Stimmt zwar, aber meint ihr, das ist so der Burner? Effizienz allein ist noch kein Verbrechen und wir wissen nicht mal, ob der Chip zur Blaupause jemals gebaut wurde. Vielleicht sollten wir wirklich mit Alpha sprechen…".

Timecode 17.06.2054 / 01:51:00

Wir hatten es uns mit ein paar Klappstühlen und einem Sechser Bio-Bier aus Ators Vorrat auf dem Hof vor meiner Garage gemütlich gemacht und, auf JD und Jack wartend, die lauen Nachtstunden genossen.
"…aber irgendwie sind sie auch Menschen!", hörte ich die Stimme von JD, als er gemeinsam mit Jack in die Einfahrt zum Hof trat.
"Klar Alter, Menschen die dir liebend gern das Fleisch von den Knochen nagen würden – und das mein' ich ganz wörtlich!", konterte der Troll.
leon, Ator und ich wechselten irritierte Blicke.
"Schon, aber nur, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Du musst das mal aus der medizinischen Perspektive betrachten. Eigentlich sind sie krank.".
"Krank, ja genau! Wie der Wichser, der sich letztens in der Tür geirrt hat und meinte, seine Hold-Out in meine Bude entleeren zu müssen. Und hatte ich die richtige Therapie?", fragte Jack sichtlich aufgebracht zurück.
JD stockte kurz. "Alter, der wird nie wieder gehen können, wenn er nicht 'nen Sponsor für 'n paar vernünftge Cyberbeine findet.". An seiner Miene war die Rüge deutlich abzulesen. Allerdings war Jack nicht gerade für besondere Sensibilität in Bezug auf Subtilitäten bekannt, so daß ich ernsthaft daran zweifelte, ob dem Troll aufgegangen war, was John Doe ihm soeben vorgeworfen hatte.
"Genau, und so 'ne Hackfresse wie der findet bestimmt keinen.", ereiferte sich Jack weiter. „Wenn ihm schon die Olle wegrennt und er ihr mit 'ner Knarre hinterher!"

Ich erinnerte mich an die Geschichte. Mitten in der Nacht hatte ein betrunkener, gehörnter Ehemann im Glauben, es handele sich bei Jack um seinen Nebenbuhler, die Tür zu seiner Bude aufgehebelt und ein Magazin aus einer Hold-Out-Pistole in verschiedene Einrichtungsgegenstände entleert. Dummerweise kam Jack gerade, als der Gehörnte sein Magazin entleert hatte, von einem Saufabend mit Chummern zurück. Jack muss den armen Mann ordentlich vermöbelt haben. Jedenfalls klingelte zwei Stunden später der Star bei ihm, um ihn wegen einem Fall von Schwerer Körperverletzung zu vernehmen. Jack konnte sich an nichts mehr erinnern, aber die Aufzeichnungen seiner Sicherheitskamera, die belegten, daß der Kerl erst geschossen und dann von einem aufgebrachten, betrunkenen Troll, der enorme Ähnlichkeit mit Jack hatte, mit einem Schlag niedergestreckt worden war, bevor er einen Tritt in die Weichteile bekommen hatte, der ihn nicht nur aus der Wohnung beförderte, sondern laut DocWagon auch sein Becken zerbröselte, ließen aus Schwerer Körperverletzung Selbstverteidigung werden. Manchmal liebe ich die UCAS-Gesetze.

"Wollt ihr ein Bier zu eurer Diskussion oder habt ihr was rausgefunden, was uns auch interessiert?", versuchte ich, die Aufmerksamkeit der beiden zu erlangen.
"Bier nehm' ich. Wirf rüber!". Jack grinste breit. Ich beglückwünschte ihn im Stillen für den korrekten Imperativ.
"Du bist auch noch stolz drauf, die arme Sau vermöbelt zu haben? Das hast du echt nicht nötig.", schnaufte JD. "Hey Leute, darf ich vorstellen, unser neuer Armes-Würstchen-Vermöbler.".
leon flüsterte irgendwas Unverständliches in Ators Richtung.
"Nein, meine Beste, es geht ausnahmsweise nicht um Masturbation.", nahm ich Ators schmunzelnde Antwort amüsiert zur Kenntnis.
"Okay, ihr zwei, fahrt mal beide einen Gang runter und setzt uns ins Bild!", bat ich die beiden Hitzköpfe um Aufklärung.
"Geht klar, Kurzer. Aber laß uns lieber rein gehen. Hier draußen sind mir zu viele Ohren unterwegs.". JD griff sich das von mir angebotene Bier und stapfte die wenigen Meter bis zum offenstehenden Mannluk meiner Garage.

Eine halbe Stunde später waren wir alle im Bilde, und so langsam wurde ein roter Faden in dieser verworrenen Story erkennbar. Jack und JD hatten im Orkuntergrund erfahren, daß Agrippa&Associates vor einigen Jahren die komplette Belegschaft ausgewechselt hatte. Angeblich wurde die – im wahrsten Sinne des Wortes – Drecksarbeit von Ghulen erledigt, die aufgrund ihres rechtlichen Status in den UCAS hervorragende Arbeitstiere abgaben, nicht streikten und bei Auflehnung gegen den Arbeitgeber einfach gegen ein Kopfgeld bei den Behörden ausgeliefert werden konnten. Dies steigerte den Profit des Müllunternehmens und machte Adam Shepherd, der Anfang der Fünfziger Jahre den Müllentsorger übernommen hatte, zu einem wohlhabenden Mann.
JD und Jack hatten von einem Rattenschamanen erfahren, daß Shepherd selbst einen Deal mit dem Hammond Necroplex abgeschlossen hatte, um seine neuen Angestellten mit der notwendigen Nahrung zu versorgen. Laut Jiggy, dem Rattenschamanen, sollte sogar Shepherd selbst ein Ghul sein, der sich seine Intelligenz trotz seiner Infektion erhalten hatte und sein Äußeres mittels kosmetischer Chirurgie instandhielt. Aber Jiggy hatte er damit nicht täuschen können, zumindest wenn wir seinen Worten glauben wollten. Leider verfügte zu diesem Zeitpunkt keiner von uns über genügend Wissen oder Erfahrung mit Ghulen, um diese Behauptung bewerten zu können. Jedenfalls würde das die Verbindung zwischen Agrippa&Associates und dem Hammond Necroplex erklären.
Griffin Moore war also im Nekroplex bestattet, sein Leichnam als Ghulfutter an Aggrippa&Associates weiterverkauft, von den "Mitarbeitern" des Müllentsorgers in die Kanalisation geschleppt, dort von Breaker und seinen Gangchummern auf Ghuljagd gefunden und des Cyberauges beraubt worden. Dieses hatte Breaker dann an Vanian vertickt, der es an Neil, den Bruder unserer Auftraggeberin, weitergereicht hatte. Seine Nachforschungen bezüglich der Blaupause hatten irgendwie Multitech alarmiert und diese hatten ein Hit-Team aktiviert, welches zwar Neil geekte, aber nicht an die Blaupause, bzw. das Cyberauge kam.
"Soweit alles nachvollziehbar. Es bleibt die Frage, für wen Clean Steve arbeitet und was dessen Ziel ist? Außerdem sehe ich nicht, wie wir damit Multitech unter Druck setzen können, wir haben ja nicht mal die komplette Blaupause, geschweige denn irgendeinen gerichtsfesten Beweis." eröffnete ich den anderen meine Sicht der Dinge.
"Hmmm…vielleicht hängt das ja zusammen.", grübelte JD. "Ich überlege schon die ganze Zeit, was Stevies Auftraggeber mit der Blaupause will. Vielleicht hat er den Rest.".
"Den Rest?", hakte leon nach.
"Ja, habt ihr noch nicht darüber nachgedacht, wo sich der Rest befindet?".
"Alter, irgendwie sprechen wir heute nicht eine Sprache. Kannste mal deutlicher werden?", formulierte Jack unser aller Gedanken.
"Na, ist doch ganz simpel.". JD nahm diesen unangenehmen Ton an, den er ganz sicher noch aus seiner eigenen Renraku-Ausbildung kannte und den ich absolut zum Kotzen fand. "Wenn der Teil, den wir haben, aus dem Auge stammt und es mehrere Teile gibt, die alle Mittels des Cyberauges aufgezeichnet wurden, wo sind die dann?", JD deutete mit seinem Zeigefinger demonstrativ auf seinen Kopf.
Mir ging ein Licht auf. "Im Headware-Memory!".
"Top! Und wer hat das?", fragte JD mit diesem besserwisserischen Tonfall, der ihn bestimmt irgendwann nochmal in Schwierigkeiten bringen würde.
"Shepherd!" kam von leon. "Egal, ob er nun ein Ghul ist oder nicht, er ist nicht bescheuert, sonst könnte er kein Unternehmen leiten. Und wenn er profitorientiert denkt, checkt er die Leichen vorher auf brauchbare Ware. Die Ghule können die eh nicht gebrauchen und er kann sie noch weiterverhökern.".
JD zeigte mit seinem ausgestreckten Zeigefinger auf leon. "Exakt mein Gedankengang!".
"Und wenn du exakt zehn Finger behalten willst, nimmst du denn da jetzt runter!". Offensichtlich war leon auch von seinem Tonfall und seiner Attitüde genervt. Jack zeigte ihr den erhobenen Daumen und auch Ator konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Man zeigt nicht mit nackten Fingern auf angezogene Runner. Hat man dir das bei Renraku nicht beigebracht?", kitzelte er noch ein wenig.
"Okay, okay…", ging ich dazwischen. "Bleiben wir beim Thema. Wir wissen nicht wirklich, ob Shepherd den Rest der Blaupausen hat, aber es klingt sinnvoll genug, um es Alpha Blue zu erläutern. Und das sollten wir als nächstes tun. War ja auch der Plan.".

Timecode 17.06.2054 / 17:15:00

Wir waren etwas zu früh dran für den Termin, den Alpha Blue für uns arrangiert hatte, also fuhr ich an dem ummauerten Gelände von Agrippa&Associates vorbei, so daß wir einen ersten Blick darauf werfen konnten. Ator hatte eine astrale Erkundung des Geländes für zu gefährlich gehalten, weil Ghule, da Dualwesen, ihn würden aufspüren können.
Das höchste der vier Gebäude, die wir von der Straße aus erkennen konnten, war drei oder vier Stockwerke hoch und entließ aus mehreren Schornsteinen schwarzen und weißen Rauch in den bewölkten Vorabendhimmel. Offensichtlich eine Art Müllverbrennungsanlage. Daneben stand ein Lagerhaus und eine Baracke, in der möglicherweise Ghule hausten und sich vor dem Tageslicht verbargen. In der nordöstlichen Ecke befand sich ein zweigeschossiges Bürogebäude mit einer Zufahrt und einem kleinen Parklatz. Wenige in Chemo- oder ähnliche Anzüge gehüllte Gestalten schlurften über das Gelände. Ihr Outfit machte es unmöglich zu sagen, ob es sich um Ghule handelte. Die Einfahrt zum Gelände wurde von einer Kamera überwacht und ein breites mutmaßlich metallenes Gittertor versperrte die Zufahrt.
"Nicht ganz so glamourös wie der Hightech-Park, an dem wir vorbeigekommen sind und auch ziemlich separiert von den anderen Anlagen hier.". Ich versuchte ein Kichern. "Aber wen wunderts? Wer will schon neben einer Müllverbrennungsanlage arbeiten?".
Tatsächlich war mir aufgefallen, daß die Anlage mehr oder weniger auf freiem Feld an der Straße lag, die durch das Industrieviertel führte.
"Könnte durchaus ein Grund gewesen sein, sich für diesen Ort zu entscheiden. Keine neugierigen Nachbarn.", gab Alpha Blue zu bedenken, die, nachdem wir sie in alles eingeweiht hatten, darauf bestanden hatte mitzukommen, um vor Ort eine Entscheidung treffen zu können. Diese würde im Wesentlichen von Shepherd abhängen.
"Auf jeden Fall super, sollten wir uns für HeavyMetal entscheiden. Wenig Kollateralschäden und keine Nachbarn, die sich aufregen.". Jack schien begeistert.
"Ich kann nur noch mal betonen, daß es sich bei Ghulen um mit dem MMVV infizierte Metamenschen handelt. Es könnte jedem von uns auch passieren.", versuchte JD, Jack in seinem Eifer zu bremsen. Mich fröstelte ein wenig bei dem Gedanken, einer meiner Chummer könnte eines Tages zu so etwas werden…
"Was ein guter Grund ist, sie nicht zu nah an uns herankommen zu lassen.", wandte leon ein. "Ich habe echt keine Lust, mir hier irgendwas einzufangen.".
Irgendwie ging mir plötzlich das Bild des brennenden Ghulmädchens aus der Kanalisation wieder durch den Kopf und mich plagte ein Anflug von schlechtem Gewisssen. "Am coolsten wär's doch, wenn wir einen Deal mit ihnen machen könnten.". Ich schaute in den Spiegel, um die Reaktionen zu sehen.
Jacks heitere Stimmung verflog schlagartig. "Du willst nicht ernsthaft mit Menschenfressern 'nen Deal durchziehen?", fragte er entsetzt.
Alpha Blue wirkte etwas angefressen. "Ich dachte, ich bin hier, um die Entscheidung zu treffen. Schließlich zahle ich die Rechnung.".
Ich nickte nur in ihre Richtung und warf Jack einen mahnenden Blick zu. Wer zahlt, trifft die Entscheidungen, es sei denn, man wendet sich gegen seinen Auftraggeber. Und das geht selten gut aus.

Nachdem wir gedreht hatten und nochmals an der Anlage vorbei gefahren waren, ohne wesentliche neue Erkenntnisse zu gewinnen, fuhr ich die Auffahrt hinauf. Das Gittertor öffnete sich, und ich fuhr die kleine Zufahrt zu dem kleinen Parplatz entlang.
"Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, die vier Jungs da in Chemoanzügen sind Ghule.". Ator deutete auf eine kleine Gruppe, die uns offensichtlich in Empfang nehmen sollte. "Die Chemoanzüge verhüllen ihre Aura. Ich könnte kurz in den Astralraum wechseln und das sicher klären. Okay?".
"Laß mal, Ator.", winkte ich ab. "Wir werden einfach vorsichtig sein. Ich will die nicht unnötig provozieren. Oder, Alpha?", wandte ich mich an unsere Auftraggeberin. Sie wirkte nachdenklich und nickte nur.
"Harharhar!", grollte es von der Rückbank. "Wenn sie Trouble machen, hab' ich ja meinen Troubleshooter dabei.". Jack tätschelte fast liebevoll seine Panther-Sturmkanone.
"Okay, also wie besprochen. leon und Jack bleiben beim Auto. Ator, JD und ich werden Alpha begleiten. Wir bleiben über Microtransceiver in Kontakt. Sollte es Probleme geben, schießen wir uns den Weg frei.". Der Plan war nicht besonders einfallsreich, aber wir waren einig gewesen, im Zweifel alles in Schutt und Asche zu legen. Wer sollte uns belangen? Und vielleicht sprang sogar noch ein wenig Kopfgeld raus.

Die vier in Chemoanzüge gehüllten Gestalten hatten Alpha Blue, Ator, JD und mich in den zweiten Stock des Bürogebäudes eskortiert. Auch drinnen hatten sie ihre Bekleidung nicht geöffnet, geschweige denn abgelegt. Es war durchaus möglich, daß sie darunter Panzerkleidung verbargen, aber mein mit Explosivmunition geladener Predator würde ausreichend Durchschlagskraft entwickeln, sollte es sich nicht um militärische Panzerung handeln, was ich doch für eher unwahrscheinlich hielt.
Im zweiten Stock wurden wir von einem Typen in einem irgendwie schlecht sitzenden Buisnessanzug begrüßt. Seine Vorliebe für kosmetische Gesichtschirurgie hatte ein glattgebügeltes, bleiches Gesicht entstehen lassen, das es mir unmöglich machte, sein Alter zu schätzen.
"Guten Abend, mein Name ist Shepherd.". Der Bleichling streckte Alpha die Hand entgegen und ich sah perfekt manikürte Fingernägel und enorm lange Finger. Alpha zögerte keine Sekunde, ergriff die angebotene Hand, ohne allerdings ihre Handschuhe abzulegen, und erwiderte die Begrüßung

Timecode 17.06.2054 / 22:30:00

"Prost, Jack! Und stell dich nicht so an. Es war die richtige Entscheidung.", stupste JD Jack an.
Zögerlich nahm der Troll das angebotene Bier entgegen und warf mir einen fragenden Blick zu.
"Was soll's? Wir sind alle heil geblieben, wir sind bezahlt worden und wir haben eine echt gute Connection gefunden, um unliebsame Leichen loszuwerden.", prostete ich Jack zu.

Alpha Blue war tatsächlich zu der Entscheidung gelangt, daß es in ihrem Interesse lag, mit Shepherd, dessen ghulische Natur von Ator bestätigt wurde, zu kooperieren. Shepherd hatte eigene Pläne mit Multitech und würde die Blaupausen für eine Erpressung nutzen. Die genauen Details hatten wir nicht erfahren, da Alpha Blue der Einladung des Unternehmers zu einem Vier-Augen-Gespräch gefolgt war und uns hinterher lediglich mitgeteilt hatte, daß sich die beiden einig geworden waren und sie unseren Run als erledigt betrachtete. Bevor wir den Rückzug angetreten hatten, hatte Shepherd uns noch angeboten, metamenschliche Leichen für uns zu entsorgen, sollte dies einmal notwendig werden. Vor etwa einer Stunde waren wir dann von Alpha Blue bezahlt worden und wollten nun eigentlich den gut bezahlten Run feiern.

"Ihr habt ja Recht, aber ich glaube dennoch nicht daran, daß man mit jemandem, der einen als Nahrung ansieht, dauerhaft friedlich zusammenleben kann…Prost!".

Fortsetzung

Die Fortsetzung der Story um die Runner findet sich unter Memoiren eines Lichtträgers / Eye Witness / Menschen, Ghule und Geister

Quellen

Die geschilderten Geschehnisse beruhen auf den Erlebnissen der SC-Gruppe von Benutzer Goronagee. Neben den oben genannten Romanen und Abenteuern fanden folgende Sourcebooks Verwendung:

Liste der Sourcebooks: